Zwischen 6. und 9. Juni findet die zehnte Wahl zum Europäischen Parlament, die Europawahl, statt. In Deutschland wird am 9. Juni gewählt.
... weiter
CSU, FDP, Freien Wählern, Grünen, SPD und Volt
Europawahl 2024: Kandidierende im Interview – Teil 2
Zwischen 6. und 9. Juni findet die zehnte Wahl zum Europäischen Parlament, die Europawahl, statt. In Deutschland wird am 9. Juni gewählt. Wir haben im Vorfeld örtliche, oberfränkische und bayerische Kandidatinnen und Kandidaten von CSU, FDP, Freien Wählern, Grünen, SPD und Volt zur Wahl interviewt und zur zusätzlichen Einordnung mit Professor Ulrich Sieberer von der Universität Bamberg gesprochen. Im zweiten Teil unserer Kandidierenden-Interviews zeigen wir Ihnen die Antworten von Michaela Reimann (Grüne), Martin Lücke (SPD), Hans-Günter Brünker (Volt) und Professor Sieberer.
Grüne: Michaela Reimann,
Listenkandidatin
Frau Reimann, warum möchten Sie die hiesige Politik verlassen und Europapolitik machen?
Michaela Reimann: 70 bis 80 Prozent unserer nationalen Gesetze basieren auf EU-Gesetzgebungen und diese haben somit einen direkten Einfluss auf unseren Alltag. Für mich gibt es eine direkte Verbindung von EU-Politik in die Länder, in die Bundesländer, in die Regionen und Kommunen. Dort, vor Ort, wird die EU-Politik kommuniziert und wirksam gemacht. Auf der anderen Seite werden Rückmeldungen aus den Städten, Kommunen und Regionen von den Parlamentarier:innen aufgenommen und ans Europäische Parlament adressiert. Diese Brückenfunktion würde ich gerne übernehmen.
Welche oberfränkischen Interessen möchten Sie einbringen?
Michaela Reimann: Ich sehe da viele Ansatzpunkte. Zum Beispiel sind wir in Oberfranken eine sehr touristische Region, entsprechend sind Natur- und Umweltschutz sehr wichtig. Dazu kann EU-Politik wesentlich beitragen. Da die EU in den letzten Jahren in Oberfranken allerdings zu wenig gefördert hat, möchte ich mich dafür einsetzen, mehr Projekte und Fördermittel für Naturschutz- und Kulturprojekte zu beantragen. Auch haben wir in der Region Zulieferer für die Automobilindustrie. Dort weiter daran zu arbeiten, dass die Transformation zur E‑Mobilität weiter vorangetrieben wird, wäre ein Punkt, den wir aus Brüssel auch mitnehmen könnten. Denn die Industrie braucht Sicherheit in Bezug auf die Rahmenbedingungen für ihre Produktion. Mit dem Green Deal in der EU haben wir dahingehend viel erreicht.
Manfred Weber hat angekündigt, das Verbrenner-Aus kippen zu wollen. Würde Sie das bei der hiesigen Industrie in Erklärungsnot bringen?
Michaela Reimann: Das, was die EVP fordert, übrigens entgegen den vorherigen Vorstellungen der Kommissionspräsidentin von der Leyen, die den Green Deal eingeführt hat, ist ein Rückschritt. Alte Lösungen sollen für aktuelle Probleme herangezogen werden. Meine grüne Forderung ist dagegen eine enkeltaugliche Europapolitik. Eine Politik, die die europäischen Klimaziele erreichen will und die Konsequenzen heutiger Weichenstellungen für zukünftige Generation in den Mittelpunkt stellt.
Die deutschen Grünen stehen in Umfragen im Vergleich zur letzten Europawahl 2019 derzeit um etwa 6 Prozentpunkte schlechter da. Woran liegt diese Entwicklung?
Michaela Reimann: Wir haben die Debatte über Klimawandel und Umweltschutz zu einem zentralen Thema der Politik gemacht. Das war in der Veränderungsgeschwindigkeit für manche vermutlich zu viel und zu schnell. Es gibt aber keinen Zweifel daran, dass wir ernsthafte und gute Lösungen für die Transformation mit dem Ausbau erneuerbarer Energien, dem Kohleausstieg, einer nachhaltigen Verkehrs‑, Wirtschafts- und Wohnungspolitik, mit dem echten Schutz unserer Lebensgrundlagen sowie rechtliche Rahmenbedingungen für eine vielfältige und offene Gesellschaft brauchen.
Im Wahlprogramm der Grünen steht unter „Wohlstand und Gerechtigkeit“ der Satz: „Für eine Politik, die den Kompromiss sucht und bereit ist, über ihren Schatten zu springen.“ In der heimischen Regierungsbeteiligung mussten die Grünen bereits einige Ideale reduzieren (Einwanderungspolitik, Energieversorgung, Umweltschutz, Rüstung). Ist das mit „über den Schatten springen“ gemeint?
Michaela Reimann: Wir machen als Grüne eine „beidhändige Politik“. Das heißt, einerseits streiten wir für unsere Überzeugungen. Anderseits sind wir gesprächs- und dialogbereit. Politik machen heißt ja immer, Dinge nicht nur angemessen voranzutreiben und zu kommunizieren, sondern auch den Gruppierungen, mit denen man verhandelt, zuzuhören und anderslautende Argumente aufzunehmen. Dabei kommen oft keine 100-Prozent-Lösungen heraus – auch wenn wir uns das wünschen. Was zum Beispiel die Pflichtbrachflächen in der Landwirtschaft betrifft, die Verwendung des Düngemittels Glyphosat, die Kennzeichnungspflicht für genmanipulierte Pflanzen oder die Ausgestaltung des Lieferkettengesetzes – da haben wir tatsächlich schon einige Kröten schlucken müssen.
Wo sehen Sie die größten Probleme auf die EU zukommen?
Michaela Reimann: Die größte Bedrohung sehe ich für unsere europäische Demokratie von innen und außen. Einerseits durch globale Systemkämpfe, die ausgetragen werden. China versucht als Weltmacht auch in Europa immer mehr Einfluss zu bekommen und der russische Diktator Putin greift in der Ukraine die europäische Demokratie mit hybrider Kriegsführung an. Wir müssen mit unserem demokratischen Modell in Europa zeigen, dass wir für die Menschen die besseren Lösungen haben. Was ich gefährlich finde, ist, dass rechtsextreme Parteien inzwischen in 13 von 27 Ländern der EU in den Nationalparlamenten sitzen. Das ist eine ernste Bedrohung der Demokratie von innen. In Deutschland stimmt es mich aber sehr positiv, dass die Leute zum Demonstrieren auf die Straße gehen und zeigen, dass sie sich einem Rechtsrutsch aktiv entgegenstellen.
SPD: Martin Lücke, Spitzen-
kandidat für Oberfranken
Herr Lücke, warum möchten
Sie Europapolitik machen?
Martin Lücke: Ich glaube, dass die europäische Ebene die wichtigste gestalterische Ebene ist für die Zukunft sehr vieler Menschen. Wir haben uns in Europa nach dem 2. Weltkrieg für ein gigantisches Friedens- und Versöhnungsprojekt zusammengefunden. Ich möchte dazu beitragen, dass sich dieses Europa weiterhin positiv entwickelt.
Was heißt das konkret?
Martin Lücke: Ich setze mich ein für ein Fortschreiben der Völkerverständigung, des sich gegenseitig Besuchens zum Beispiel oder von Schüleraustauschprogrammen. Das schafft ein gegenseitiges Verständnis und betont die Gemeinsamkeiten. Unter sozialdemokratischen Gesichtspunkten stehe ich für die großen SPD-Prinzipen: Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität. Wiederfinden kann man diese Dinge etwa in Chancengleichheit, in einer stabilisierten Rechtsprechung, in Sicherheit im Internet oder im Beistand für die sozial Schwachen – all das geht am besten im europäischen Kontext.
Welche oberfränkischen Interessen möchten Sie vertreten?
Martin Lücke: Oberfränkische Interessen beziehen sich für mich etwa auf die Frage: Wie schaffen wir es, den Strukturwandel in sich verändernden Produktionsformen zum Beispiel in der Autoindustrie hinzukriegen? Ein zweites wichtiges Thema ist die regionale Agrarförderung. Wenn ich zum Beispiel im Frankenwald sehe, wie der Borkenkäfer gewütet hat – das schreit direkt nach einer Europaförderung zur Renaturierung unserer Wälder.
Die SPD steht in Umfragen derzeit fast 10 Prozentpunkte schlechter da als bei der Bundestagswahl. Wie wollen Sie es bewerkstelligen, nicht auch von diesem negativen Trend erfasst zu werden?
Martin Lücke: Umfragen kümmern mich eher wenig. Wenn ich mir aber etwa anschaue, wie viele Menschen in den letzten Monaten für die Demokratie und gegen rechts auf die Straßen gingen, sehe ich, wie viele Menschen aufgewacht sind und inzwischen auch verstehen, dass es Gründe hat, dass die SPD bereits 160 Jahre alt ist. Denn wir halten bestimmte soziale Themen immer wieder auf der Tagesordnung. Dafür steigt im Moment das Verständnis – was mir gut gefällt.
In den Umfragen ist das aber noch nicht angekommen. An welchen Punkten müssen Sie sich von der Bundes-SPD fernhalten, um in Europa erfolgreich zu sein?
Martin Lücke: Wie soll ich mich fernhalten, wenn ich sage, dass wir zu unseren Grundwerten stehen und das halten, was wir versprechen? Wenn ich zum Beispiel sehe, wie Olaf Scholz im Hintergrund ganz konsequent bestimmte Themen durchhält, sehe ich ihn wie den Chef einer Band, der alle beim Grundrhythmus hält. Es gibt natürlich immer wieder Solopartien, vielleicht wenn Kollege Lindner vorschnell irgendwelche dummen Sachen in die Welt setzt oder die Grünen, die ihrerseits etwas unabgestimmt hinausposaunen. Am Ende ist es aber der Kanzler, der zusammenführt und voranbringt. Das macht mich relativ gelassen.
Auch international hat das Ansehen der SPD gelitten, zum Beispiel die Taurus-Entscheidung des Kanzlers hat zuletzt für Unverständnis geführt. Wie ließe sich das Ansehen bessern?
Martin Lücke: Dieses Bild des Kanzlers ist Teil der veröffentlichten Meinung, um nicht zu sagen des öffentlichen Klamauks um die Taurus-Entscheidung. Ich halte diese Diskussionen für verantwortungslos in Bezug auf die Sicherheit unseres Landes. Am Ende geht es darum, dass wir deutsche, sehr ausgefeilte Verteidigungstechnologie nicht einfach so aus der Hand geben können und wollen. Anders als die Heißsporne in anderen Parteien, hat unser Bundeskanzler immer klar gemacht, dass es eine Grenze gibt, nämlich: Deutschland tritt in den Krieg in der Ukraine nicht aktiv ein. Andererseits möchte ich aber auch betonen: Nach den USA unterstützt wirtschaftlich kein Land die Ukraine so stark wie Deutschland – mit deutlichem Abstand zu anderen europäischen Ländern.
Andere Länder wie Frankreich oder Großbritannien stellen aber dem Taurus-System sehr ähnliche Systeme zur Verfügung ohne Kriegspartei zu werden.
Martin Lücke: Das stimmt, aber dass müssen deren nationale Sicherheitsberater entscheiden. Außerdem ist Deutschland im Gegensatz zu den beiden Ländern keine Atommacht. In dieser Liga der Atommächte kann man anders auftreten.
Die Probleme der EU sind zahlreich – wo sehen Sie die größten Herausforderungen auf die EU zukommen?
Martin Lücke: Eine ganz große Herausforderung im Angesicht von Russland oder China ist sicherlich eine gut abgestimmte gemeinsame Sicherheitspolitik und eine Stärkung der europäischen Komponente der Nato – nicht zuletzt im Hinblick auf die anstehende US-Wahl. Hinzu kommt der Klimawandel. Wir müssen uns auf die Folgen einstellen, wozu es auch ein gemeinsames europäisches Handeln brauchen wird. In dieser EU-Wahl wird es zudem darum gehen, ob es gelingt, Nationalismus und Rechtsnationalismus soweit einzugrenzen, dass Europa durch nationale Interessen nicht zerteilt wird, sondern das große Gemeinschaftsprojekt weiterbesteht. Eine diesbezügliche Abgrenzung nach rechtsaußen haben Manfred Weber und die EVP in der nun zu Ende gehenden Wahlperiode allerdings vermissen lassen.
Volt: Dr. Hans-Günter Brünker, Listenkandidat
Herr Brünker, warum möchten Sie Europapolitik machen?
Hans-Günter Brünker: Weil wir Europa dringend benötigen. Denn die großen Fragen der heutigen Zeit können wir nur gemeinsam bewältigen. Und dafür brauchen wir ein besseres, reformiertes Europa. Mit einer echten, demokratisch gewählten Regierung. Ohne Veto-Recht für einzelne Länder, die sonst die ganze EU erpressen. Was mir dabei zum Beispiel besonders am Herzen liegt, sind seit jeher Energie- und Sicherheitspolitik. Das sind Themen, die vor zweieinhalb Jahren noch niemanden interessiert haben, nun aber sehr präsent geworden sind.
Volt steht für eine nukleare Teilhabe der EU an französischen Atomwaffen. Wäre das auch ein Thema, das interessanter wird?
Hans-Günter Brünker: Ja. Denn wir brauchen eine gesamteuropäische Sicherheitspolitik. Die Sicherheitsausgaben der EU sind sehr hoch, aber im Vergleich zum Beispiel zu den USA bekommen wir dafür relativ wenig. Das liegt an unfassbar komplexen Strukturen, die auf der nationalen Vielfalt beruhen, die an dieser Stelle aber einfach nicht hilft. Durch eine konsequente, gemeinsame Beschaffung und Entwicklung, könnten wir mit viel weniger Geld viel mehr Sicherheit erreichen.
Wo sehen Sie entsprechend die größten Probleme auf die EU zukommen?
Hans-Günter Brünker: Kurzfristig sehe ich die größten Probleme bei der Sicherheit und in der Wirtschaftspolitik. Bei dem Verlust unserer industriellen Strukturen und unseres Wohlstandes. Langfristig , ist das größte Problem der Klimawandel – das steht über allem. Etwas, das wir übrigens auch nur gesamteuropäisch lösen können. Wir geben in Deutschland zum Beispiel sehr viel Geld für nachhaltige Energieerzeugung aus, was sehr gut ist. Aber wenn wir für das gleiche Geld zum Beispiel Photovoltaik in Südeuropa bauen und Windenergie in Nordeuropa, und ein vernünftiges europäisches Energienetz schaffen, dann bekommen wir für das gleiche Geld viel mehr nachhaltige Energie. Und zusätzlich würde es uns strategisch deutlich unabhängiger machen.
Um welche oberfränkischen Interessen geht es Ihnen?
Hans-Günter Brünker: Als Stadtrat in Bamberg denke ich natürlich auch an die Belange der Stadt. Oberfranken profitiert an der einen oder anderen Stelle bereits von diversen EU-Strukturfonds. Volt unterstützt darüber hinaus eine EU-weite Initiative, dass sich Kommunen auch direkt für europäische Förderung bewerben können. Bislang geht so etwas nur über nationale Töpfe. Eine Entsprechende Resolution haben wir mehrheitlich inzwischen auch im Bamberger Stadtrat verabschiedet.
Ihr Programm unterscheidet sich im Großen und Ganzen kaum von dem anderer eher linker Parteien. Warum sollte man Volt wählen, wenn man etwa die erfolgversprechenderen Grünen wählen kann?
Hans-Günter Brünker: Weil wir es ernst meinen mit Europa.
Das sagen die anderen auch.
Hans-Günter Brünker: Aber sie tun es nicht! Im Vorfeld der Europawahl 2019 las ich mir die Programme der deutschen Parteien durch. Bei der CSU war ich beispielsweise ganz verwundert, wie viele proeuropäische und auch durchaus sinnvolle Dinge da drin standen. Und so wird das auch diesmal sein. Aber umgesetzt wird davon dann, wie von den anderen Parteien auch, erneut kaum etwas. Ich nenne die CSU, weil wir, was Zusammenarbeit oder Koalitionen angeht, pragmatisch sind. In Köln sind wir in der Regierung zusammen mit den Grünen und der CDU, in Bamberg anfangs mit rot-grün und der ÖDP. Ich sehe also durchaus auch konservatives Wählerpontenzial, Leute, die von der CSU die Nase voll haben, aber auch nicht links wählen wollen. Und, ohne den Grünen zu nahe treten zu wollen: Ich würde mir wünschen, dass es die einen europäischen Grünen gäbe. Aber die Unterschiede zwischen zum Beispiel deutschen oder französischen Grünen sind immer noch viel zu groß. Wir hingegen sind eine gesamteuropäische Partei, aktiv in 30 Ländern, mit einem gemeinsamen Programm. Bei den anderen Parteien stehen stattdessen am Ende doch immer nationale Interessen im Vordergrund. Und das führt nicht zu den besten Lösungen.
Prof. Dr. Ulrich Sieberer, Leiter Empirische Politikwissenschaft, Universität Bamberg
Herr Sieberer, die Wahlbeteiligung bei der EU-Wahl lag 2019 in Deutschland bei knapp 61 Prozent, weniger als zum Beispiel bei der letzten Bundestagswahl (76 Prozent). Wie kommt dieser Unterschied im Interesse zustande?
Ulrich Sieberer: Viele Bürgerinnen und Bürger messen den EU-Wahlen eine geringere Bedeutung bei und bleiben deshalb eher zu Hause – ein Phänomen, das wir auch von Landtagswahlen kennen, wo die Beteiligung meist auch deutlich unter der der Bundestagswahl liegt. Dazu kommt speziell bei der Europawahl, dass viele Wahlberechtigte keine klare Vorstellung davon haben, was die EU konkret tut und wofür das Europaparlament zuständig ist.
Die SPD sank in den Umfragewerten zuletzt ab. Kann sich eine Partei für eine internationale Wahl von einem heimischen Abwärtstrend fernhalten oder muss sie sich zwangsläufig auch bei der EU-Wahl auf einen Stimmenverlust einstellen?
Ulrich Sieberer: Zwangsläufig nicht, aber es wäre schon eine große Überraschung, wenn diese Parteien nicht ebenfalls abgestraft würden. Beide haben den kleinen „Vorteil“, dass ihr Ergebnis bei den letzten Europawahlen 2019 bereits sehr schwach war, vor allem bei der SPD, die nur knapp über 15 Prozent der Stimmen lag. Insofern wird der direkte Vergleich zur letzten Wahl auf den ersten Blick nicht so schlimm ausfallen.
Volt hat als gesamteuropäische Partei nicht das Problem, nationale Einstellungen und Absichten vereinen zu müssen. Verspricht sich die Partei davon zurecht einen Vorteil bei der Wahl?
Ulrich Sieberer: Das kann attraktiv sein für Wählende, die eine wirklich europäische Perspektive einnehmen und sich mit den europapolitischen Vorhaben der Parteien ernsthaft auseinandersetzen. Allerdings ist diese Gruppe nicht sonderlich groß. Ich glaube nicht, dass Volt über einen kleinen Achtungserfolg hinauskommen wird.
Die Grünen mussten in der Ampelkoalition bereits schmerzhaft einige Ideale einschränken, etwa in Sachen Klimaschutz, Energieversorgung, Migration oder Rüstungsexporte. Inwiefern muss sich die Partei darauf einstellen, von ihrer Wählerschaft für diese Identitätseinbußen bei der EU-Wahl abgestraft zu werden?
Ulrich Sieberer: Das größte Problem für die Grünen ist ihr großer Erfolg bei den letzten Europawahlen, als sie mit über 20 Prozent ihr historisch bestes Ergebnis bei einer bundesweiten Wahl erreicht haben. Die damalige Wahl stand ganz unter dem Eindruck der Klimadebatte und einer unpopulären großen Koalition. Heute ist die Ausgangsposition grundsätzlich anders – bei den dominanten Themen, gerade im Bereich Migration, tun sich die Grünen schwer mit dem Spagat zwischen Parteibasis, Koalitionspartnern und öffentlicher Meinung, und als Mitglied der Ampel werden sie für deren schlechtes Image zu einem gehörigen Teil mitverantwortlich gemacht. Unter diesen Umständen wäre ein Ergebnis zwischen 10 und 15 Prozent schon ein Erfolg – aber so oder so wird bei den Grünen am Wahlabend ein dicker roter Balken im Vergleich zu 2019 stehen.
Das könnte Sie auch interessieren...
CSU, FDP, Freien Wählern, Grünen, SPD und Volt
Europawahl 2024: Kandidierende im Interview – Teil 1
Zwischen 6. und 9. Juni findet die zehnte Wahl zum Europäischen Parlament, die Europawahl, statt. In Deutschland wird am 9. Juni gewählt. Wir haben im Vorfeld örtliche, oberfränkische und bayerische Kandidatinnen und Kandidaten von CSU, FDP, Freien Wählern, Grünen, SPD und Volt zur Wahl interviewt und zur zusätzlichen Einordnung mit Professor Ulrich Sieberer von der Universität Bamberg gesprochen. Im ersten Teil unserer Kandidierenden-Interviews zeigen wir Ihnen die Antworten von Monika Hohlmeier (CSU), Milan Tartler (FDP), Christine Singer (Freie Wähler) und Professor Sieberer. Teil 2 folgt in Kürze.
CSU: Monika Hohlmeier, Spitzenkandidatin für Oberfranken
Frau Hohlmeier, welche sind die Themen, die Sie am vordringlichsten im Europaparlament einbringen möchten?
Monika Hohlmeier: Wir erleben zu oft, dass alles kontrolliert und bis ins kleinste Detail geregelt wird. Als CSU haben wir in den vergangenen Jahren immer wieder gegen eine Mehrheit im Parlament gekämpft, die alles bis ins kleinste Detail vorschreiben will.
Europa soll sich um die großen gemeinsamen Themen kümmern, aber den Menschen Freiraum lassen. Die massive Überregulierung der vergangenen fünf Jahre wurde von einer europäischen Ampel-Mehrheit durchgesetzt. Auch brauchen wir Sicherheit. Unser Frieden ist gefährdet. Deshalb brauchen wir eine starke gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und eine echte Verteidigungsgemeinschaft, die in der Lage ist, rasch und konsequent Aggressionen abzuwehren. Sicherheit brauchen wir auch bei der Migration. Humanität und Ordnung schließen sich nicht aus, müssen aber auch durchgesetzt werden können. Wir wollen entscheiden, wer nach Europa kommt und wer nicht. Als Vorsitzende des Haushaltskontrollausschusses sind mir als drittes Thema vor allem die Finanzen der EU und der sachgerechte Umgang mit den Geldern sehr wichtig. Keine weitere Verschuldung, Verstärkung des Kampfes gegen Korruption und Missbrauch von Mitteln. Wir brauchen mehr Geld für Innovation und Forschung und regionale Projekte.
Welche oberfränkischen Interessen möchten Sie vertreten?
Monika Hohlmeier: Ich bin die Stimme Oberfrankens in und nach Europa. Direkte Ansprechpartnerin für die Menschen und Unternehmen. Deshalb kümmere ich mich zum Beispiel um Energieprobleme unserer vielfältigen oberfränkischen Industrie, um Förderanträge von Kommunen, Unternehmen und Vereinen genauso wie um Schul‑, Kultur- und Bildungsprojekte, die ich häufig und gerne unterstütze. Eines ist klar: Europa ist die Basis für unseren wirtschaftlichen und sozialen Wohlstand. Fast zwei Drittel unserer Arbeitsplätze hängen am europäischen Binnenmarkt und unseren Freihandelsverträgen. Das ist insbesondere für eine exportstarke Region wie Oberfranken wichtig, die aktuell von der Ampel massiv beeinträchtigt wird.
Die Präsidentin der Europäischen Kommission, die Parlamentspräsidentin und die Präsidentin der Zentralbank entstammen konservativen Parteien, die EVP stellt die größte Fraktion im EU-Parlament, rechte Partien werden in vielen europäischen Ländern stärker. Ursula von der Leyen will zudem eine Zusammenarbeit mit dem rechten Parteien-Zusammenschluss EKR nicht ausschließen. Wie kommen Manfred Weber und Markus Söder darauf, vor der Wahl vor linken Ideologien oder einem Linksruck zu warnen?
Monika Hohlmeier: Es geht bei der Europawahl darum, wer die Mehrheit im Europäischen Parlament hat. Seit fünf Jahren versuchen wir einer kontrollversessenen Ampel-Mehrheit – immer wieder unter Mithilfe der Freien Wähler und der Linken – Kompromisse abzuringen und die schlimmsten Auswüchse zu vermeiden. Das Ergebnis ist eine Vielzahl von Bürokratie, von Verboten und rein ideologischen Entscheidungen. Wir brauchen eine Mehrheit für Zukunftsentscheidungen und dies ist nur mit einer bürgerlichen Mehrheit möglich. Wir brauchen Lösungen und nicht mehr Kontrolle. Als CSU kämpfen wir gegen Ideologen von beiden Seiten. Sowohl Manfred Weber als auch Markus Söder warnen nicht nur vor linken Parteien, deren Mehrheitspolitik wir in Brüssel und Berlin erleben, sondern auch vor rechtsextremen Parteien, die Europa zerstören wollen und mit einem Dexit unseren wirtschaftlichen Wohlstand gefährden. Wir brauchen eine starke Politik der Mitte.
Die Probleme der EU sind zahlreich – wo sehen Sie die größten Herausforderungen auf die EU zukommen?
Monika Hohlmeier: Als Europa stehen wir vor großen Herausforderungen und unter großem Handlungsdruck. Neben den Themen Sicherheit und Migration müssen wir Rahmenbedingungen schaffen, die unseren Wohlstand erhalten. Auch beim Klimawandel brauchen wir europäische Lösungen. Wichtig ist, dass wir uns nicht selbst Steine in den Weg legen, zum Beispiel durch völlig überzogene Dokumentations- und Nachweispflichten. Wichtig ist, dass wir gute Voraussetzungen schaffen, mit denen wir Ideen, Vertrauen und aktives Handeln fördern, statt jedem Angst vor Kontrolle und Strafe zu machen. Nur so können wir auch im Wettbewerb mit anderen Kontinenten bestehen. Wir stehen als Europa gerade am Scheideweg. Schlagen wir die richtige Richtung ein!
FDP: Milan Tartler, Spitzenkandidat für Oberfranken
Herr Tartler, warum möchten Sie Europapolitik machen?
Milan Tartler: Mit meinen 22 Jahren kenne ich nur ein Europa des Friedens, der Freiheit und der offenen Grenzen. Über ein solches Privileg bin ich mehr als nur glücklich. Lange habe ich nicht einmal daran gedacht, dass man ein solches Geschenk freiwillig abgeben möchte. Nun merkt man jedoch mehr und mehr, wie nationalistische und protektionistische Strömungen in Europa zunehmen, wodurch die EU von innen heraus geschwächt wird.
Welche oberfränkischen Interessen möchten Sie dabei vertreten?
Milan Tartler: Als ehemaliger Vorsitzender der Bayreuther Studierendenvertretung setze ich mich beispielsweise dafür ein, dass Wissenschaft und Lehre nicht nur regional oder national gedacht werden, sondern insbesondere auch auf europäischer Ebene noch mehr Förderung erfahren. Durch gute Erasmus-Programme und wissenschaftlichen Austausch können die Universitäts- und Hochschulstandorte florieren, wovon die gesamte oberfränkische Wirtschaft und damit die Gesellschaft profitiert.
Die FDP sprach sich jüngst gegen eine Anpassung des Bürgergeldes, gegen eine Senkung der Mehrwertsteuer, gegen die Kindergrundsicherung und für die Erhöhung des Erbschaftsfreibetrags aus. Außerdem hat die FDP zuletzt versucht, auf EU-Ebene kurzfristig einige Gesetze durch Enthaltung zu blockieren (Verpackungsordnung, Lieferkettengesetz, KI-Gesetz, Plattformarbeit). Wieso sehen Sie darin einen Weg, die derzeitigen heimischen Umfragewerte von etwa 4 bis 5 Prozent zu verbessern und im Vorfeld der EU-Wahl auf sich aufmerksam zu machen?
Milan Tartler: Ziel der FDP ist es, mit liberaler Politik die Gesellschaft zu verbessern, dabei jedoch die Realität nicht aus den Augen zu verlieren. In einer Regierung aus mehreren Parteien ist es dabei normal, dass man nicht sofort zu einem alle Interessen vollständig erfüllenden Beschluss kommt. Wir als FDP stellen uns schützend vor die hart arbeitende Bevölkerung. Und wenn andere Parteien auf Kosten von zukünftigen Generationen Geld ausgeben und Schulden aufnehmen wollen, Bürokratiemonster schaffen oder in die Freiheit und Selbstbestimmung mündiger Bürger eingreifen, gibt es für uns nur eine Antwort: Nein! Die Umfragewerte sind dabei immer nur eine Momentaufnahme, entscheidend für uns ist der Wahltag. Bis dahin werden wir unser Bestes geben, um den Bürgerinnen und Bürgern zu zeigen, dass wenn wir Vorhaben blockieren, dies primär zur Freiheits- und Wirtschaftssicherung notwendig ist. Und dass wir auf der anderen Seite umso mehr Vorhaben selbst realisiert haben, durch die eben diese Freiheit und Wirtschaft vorangetrieben wird.
Die FDP gilt in Brüssel bereits als Blockadepartei, Deutschland und die „German Vote” darum als unzuverlässig.
Michael Clauß, Deutschlands Botschafter in der EU, sagte, das Land büße Reputation ein. Auch die Kurzfristigkeit mit der Einigungen zurückgenommen werden, wird kritisiert. Inwiefern halten Sie es der Handlungsfähigkeit des EU-Parlaments zuträglich, wenn das Land mit den meisten Sitzen als unzuverlässig angesehen wird und kurz vor Abstimmungen Einigungen immer wieder bricht?
Milan Tartler: Natürlich wäre es auch mir am liebsten, wenn bei allen wichtigen Themen große Einigkeit besteht. Im EU-Parlament sitzen jedoch direkt gewählte Abgeordnete, die ein freies Mandat ausüben und nur ihrem Gewissen unterworfen sind. Wenn also etwaige Absprachen getroffen werden, müssen diese so gestaltet sein, dass eine parlamentarische Mehrheit erzielt wird. Von Volksrepräsentanten zu fordern, in einer bestimmten Weise abzustimmen, nur weil sich andere Stellen über gewisse Dinge vermeintlich einig sind, entspricht nicht meinem Demokratieverständnis. Hierbei ist die FDP die Partei der Entbürokratisierung, während die EU gerne mal als Bürokratiemonster beschrieben wird. Natürlich kommt es dann vor, dass die FDP bei neuen Vorhaben, die anstatt zu helfen nur noch mehr Gängelungen oder Vorschriften für die Bevölkerung bringen, nicht mitmacht.
Die Probleme der EU sind zahlreich. Wo sehen Sie die größten Herausforderungen auf die EU zukommen?
Milan Tartler: In Zukunft wird es für Europa wichtig werden, sich als geschlossene Einheit in der Welt behaupten zu können. Dabei wird es wichtig sein, nationalistischen und protektionistischen Tendenzen aus vielen Mitgliedsstaaten entgegenzutreten. Die Länder der Union müssen deshalb noch besser zusammenwachsen. Sei dies durch wirtschaftliche Verflechtungen, gemeinsame Migrationskontrolle, militärische Zusammenarbeit oder einfach nur persönliche, länderübergreifende Freundschaften. Dies möchte die FDP durch liberale europäische Politik erreichen, die einzelnen Schritte dazu findet man im Wahlprogramm. Wenn wir Europäer mit unserer Vielzahl an Kulturen, Ideen und Fähigkeiten geschlossen auf den Weltmarkt treten, können wir den anderen Global Playern die Stirn bieten.
Freie Wähler: Christine Singer, Spitzenkandidatin
Frau Singer, warum möchten Sie Europapolitik machen?
Christine Singer: Ich bin sehr aktiv in der Kommunalpolitik Oberbayerns und meine Motivation war immer schon: Mitgestalten und nicht schimpfen. Seit ich 2022 Landesbäuerin des Bauernverbandes wurde, spüre ich deutlich, dass der Ursprung vieler Probleme, die wir in der Landwirtschaft haben, in Europa liegt. Außerdem habe ich das Gefühl, dass das Klimaproblem alles überschattet und dass vor lauter Versuchen, das Klima zu retten, vergessen wird, die Versorgung mit Lebensmitteln zu sichern. Diese Sicherung ist mir eine Hauptmotivation.
Welche Themen möchten Sie dabei konkret einbringen?
Christine Singer: Ich stelle fest, dass aus Klimaschutz- und Tierwohlgründen die Tierhaltung weiter reglementiert werden soll. Aber die Tierhaltung ist gerade in Bayern stark. Es geht uns gut, weil wir eine funktionierende Landwirtschaft und entsprechende klimatische Bedingungen haben. Und wenn Lebensmittelerzeugung gut funktioniert, muss man sie auch dort betreiben, wo sie gut funktioniert. Es macht keinen Sinn, in Deutschland die Tierhaltung weiter mit Gesetzen zu belegen und dafür zum Beispiel Fleisch zu importieren, das in anderen Ländern außerhalb der EU zu Bedingungen erzeugt wird, die mit Sicherheit nicht unseren Umweltstandards entsprechen. Da möchte ich mich so einbringen, dass Gesetze und Verordnungen in einer Art auf den Weg gebracht werden, dass innerhalb Europas das Maximum an Lebensmitteln selbst erzeugt werden kann. Und natürlich mit Blick auf das Erreichen der Klimaziele.
Um welche oberfränkischen oder bayerischen Interessen geht es Ihnen?
Christine Singer: Mir geht es darum, die Vielfalt in der bayerischen Landwirtschaft zu bewahren. Das gilt auch für kleine Betriebe oder das Handwerk und den Mittelstand. Die kommen nicht mehr mit, weil es so viele Auflagen gibt, weil sie so viel dokumentieren und immer neue EU-Gesetze im Blick haben müssen. Unter anderem das treibt momentan die Bauern auf die Straßen.
Apropos Bauernproteste: In Ihrem Wahlprogramm schreiben die Freien Wähler: „Wir stehen für die Förderung einer respektvollen Debattenkultur.“ Die Proteste, die große Zustimmung der FW fanden und die der Bauernverband mitorganisiert hat, die teilweise aber in Gewalt umschlugen, kann man jedoch kaum als respektvolle Debattenkultur bezeichnen. Wie sehen Sie das?
Christine Singer: Wie die Proteste zum Beispiel in Brüssel ausgeartet sind, mit Straßenblockaden und Gülle in den Straßen – davon bin ich kein Freund. Aber ich war bei vielen Bauernprotesten in Deutschland und muss sagen: Ich habe die Proteste immer sehr friedlich und positiv wahrgenommen. Ich weiß, dass sich zum Beispiel ein Herr Habeck bedroht fühlte und dass es bei manchen Veranstaltungen ein bisschen ungute Situationen gab. Für mich ist die Großzahl der Proteste aber so abgelaufen, wie man sich das wünscht: demokratisch, dialogbereit und auf Augenhöhe. Die Medien haben allerdings ein verzerrtes und einseitiges Bild der Proteste gezeichnet. Ich war entsetzt, wie teilweise berichtet wurde.
Im Wahlkampf zur bayerischen Landtagswahl 2023 setzten die Freien Wähler und dabei vor allem Hubert Aiwanger oft auf Populismus. Wird das auch Ihr Vorgehen im Wahlkampf für die Europawahl sein? Denn es scheint ja funktioniert zu haben.
Christine Singer: Ich bin seit 25 Jahren ehrenamtlich aktiv und seit 2002 in der Kommunalpolitik. Ich bin dabei aber ein ganz anderer Mensch als Hubert Aiwanger, das heißt, nicht jemand, der Bierzelte füllt. Das ist nicht, was ich mache. Ich möchte mitgestalten, netzwerken, das Gespräch ist mir wichtig und die Menschen mitzunehmen.
Wo sehen Sie die größten Probleme auf die EU zukommen?
Christine Singer: Ich denke, was die Menschen derzeit am meisten bewegt, ist der Ukrainekrieg. Wie geht es mit unserer Sicherheit weiter? Auch das Thema der Migration ist in der ganzen EU wichtig, gerade auch in der Kommunalpolitik. Viele Kommunen sind damit beschäftigt, Menschen unterzubringen und zu integrieren. Da müssen wir schauen, dass wir diese Menschen vielleicht schon an den Außengrenzen der EU in Empfang nehmen. Und dann ist es mir noch wichtig, dass wir weiterhin Arbeitsplätze in der EU haben. Denn mit den aktuellen Gesetzgebungen und der Bürokratie stellen wir fest, dass immer mehr Betriebe auswandern. Wir müssen den Wirtschaftsraum Europa erhalten, denn nur so können wir Wohlstand und Frieden sichern.
Prof. Dr. Ulrich Sieberer, Leiter Empirische Politikwissenschaft, Universität Bamberg
Herr Sieberer, die Wahlbeteiligung bei der EU-Wahl lag 2019 in Deutschland bei knapp 61 Prozent, weniger als zum Beispiel bei der letzten Bundestagswahl (76 Prozent). Wie kommt dieser Unterschied im Interesse zustande?
Ulrich Sieberer: Viele Bürgerinnen und Bürger messen den EU-Wahlen eine geringere Bedeutung bei und bleiben deshalb eher zu Hause – ein Phänomen, das wir auch von Landtagswahlen kennen, wo die Beteiligung meist auch deutlich unter der der Bundestagswahl liegt. Dazu kommt speziell bei der Europawahl, dass viele Wahlberechtigte keine klare Vorstellung davon haben, was die EU konkret tut und wofür das Europaparlament zuständig ist.
In vielen Ländern der EU werden konservative und rechte Parteien immer stärker. Welches Abschneiden trauen Sie entsprechend Union und AfD bei der Wahl zu?
Ulrich Sieberer: Für beide Parteien erwarte ich deutliche Zugewinne. Der wichtigste Grund dafür ist aber nicht die allgemeine Stärke rechter Parteien in Europa, sondern die aktuelle Unzufriedenheit mit der Ampelkoalition in Deutschland. Viele Wählerinnen und Wähler nutzen Europawahlen de facto als Bewertungsmöglichkeit für die amtierende Bundesregierung und strafen diese ab – selbst wenn es eigentlich um die europäische Ebene geht.
Die FDP sank in den Umfragewerten zuletzt ab. Kann sich eine Partei für eine internationale Wahl von einem heimischen Abwärtstrend fernhalten oder muss sie sich zwangsläufig auch bei der EU-Wahl auf einen Stimmenverlust einstellen?
Ulrich Sieberer: Zwangsläufig nicht, aber es wäre schon eine große Überraschung, wenn diese Parteien nicht ebenfalls abgestraft würden. Beide haben den kleinen „Vorteil“, dass ihr Ergebnis bei den letzten Europawahlen 2019 bereits sehr schwach war, vor allem bei der SPD, die nur knapp über 15 Prozent der Stimmen lag. Insofern wird der direkte Vergleich zur letzten Wahl auf den ersten Blick nicht so schlimm ausfallen.
Die Freien Wähler setzen im Wahlkampf stark auf derzeit im Fokus stehende landwirtschaftliche Themen. Inwiefern ist das ein erfolgversprechendes Rezept?
Ulrich Sieberer: Die Freien Wähler stehen vor der Herausforderung, bundesweit an Profil zu gewinnen, und da ist Landwirtschaft ein mögliches Thema, das in ländlichen Regionen ziehen könnte. Das dürfte aber nicht reichen, um bundesweit auch nur annähernd an das Ergebnis der bayerischen Landtagswahlen heranzukommen. Da es bei der Europawahl keine Sperrklausel gibt, werden es die Freien Wähler nach Brüssel schaffen, aber ein starkes Signal, dass 2025 ein Einzug in den Bundestag gelingen könnte, erwarte ich eher nicht.