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Karin Thiel

Selbst­ver­tei­di­gung mit Handicap

Trai­ne­rin Karin Thiel

Karin Thiel gibt Unter­richt in Selbst­ver­tei­di­gung. Das tut sie glei­cher­ma­ßen für Men­schen mit wie auch für Men­schen ohne Behin­de­rung. Sie selbst lei­det an Mul­ti­pler Skle­ro­se und sitzt im Roll­stuhl. In die­sem Zustand Trai­ne­rin zu sein, ist kein leich­tes, aber ein muti­ges Unter­fan­gen. Es gibt ihr und ande­ren Kraft und schenkt Lebensfreude.

Schon immer woll­te Karin Thiel eine Kampf­sport­art ler­nen, aber sie hat sich nie getraut. Sie fühl­te sich kör­per­lich nicht stark genug. Erst das Aus­bre­chen ihrer Krank­heit hat sie dazu gebracht, ihrem Wunsch nach­zu­ge­hen. Dabei gab es kei­nen unmit­tel­ba­ren Anlass, wie etwa einen Angriff, dem sie aus­ge­setzt gewe­sen wäre. Viel­leicht aber spür­te die den Impuls, dass man plötz­lich mehr an sich, an sei­ne Wün­sche und Träu­me denkt, dass man aus einem Schat­ten­da­sein tritt und Mut fasst, sich zu verwirklichen.

Die Chan­ce nutzen

Mit 28 Jah­ren merk­te Karin Thiel, dass etwas mit ihr nicht stimm­te. Immer wie­der stol­per­te und stürz­te sie. Die Dia­gno­se: Mul­ti­ple Skle­ro­se. Trotz allem blieb sie opti­mis­tisch und auch kämp­fe­risch. Sie grün­de­te eine Fami­lie, zog ihren Sohn auf und stand bis zur Erwerbs­un­fä­hig­keit im Arbeits­le­ben. Begon­nen hat ihre Kar­rie­re in der Selbst­ver­tei­di­gung 2005, als Karin Thiel auf einer Mut­ter-Kind-Kur weil­te. Hier gab eine The­ra­peu­tin einen Anti­ge­walt­trai­nings-Kurs. Die jun­ge Mut­ter nutz­te die Chan­ce, nahm teil und fand Gefal­len. Der Grund­stein war gelegt.

Zwei Jah­re spä­ter nahm sie an wei­te­ren Kur­sen in Ulm, Kit­zin­gen und Bam­berg teil. So bau­te sie ihr Wis­sen und Kön­nen immer wei­ter aus. Schließ­lich leg­te sie als ers­te Frau und als ers­te Roll­stuhl­fah­re­rin in ganz Bay­ern im Behin­der­ten­sport die Prü­fung zur Fach­übungs­lei­te­rin ab. Seit­her agiert sie ehren­amt­lich selbst als Kurs­lei­te­rin – und das nicht nur in Bam­berg und Umge­bung, son­dern auch bei­spiels­wei­se in Rosen­heim, Starn­berg, Mün­chen oder Nürn­berg. Sie trai­niert Men­schen mit und ohne Han­di­cap, geht in Kin­der­ta­ges­stät­ten oder in kari­ta­ti­ve Einrichtungen.

Sport­li­che und ver­ba­le Elemente

Karin Thiels Ober­kör­per funk­tio­niert gut, die Bei­ne aller­dings nicht mehr. Wie ver­mit­telt sie in die­ser etwas schwie­ri­gen Ver­fas­sung die Ver­tei­di­gungs­tech­ni­ken? „Man­ches kann ich zei­gen, ande­re Din­ge erklä­re ich theo­re­tisch. Außer­dem arbei­te ich mit Hilfs­mit­teln, wie Schlag­stö­cken. Auch den Roll­stuhl kann man, mit der rich­ti­gen Hand­ha­be, als Ver­tei­di­gungs­in­stru­ment ein­set­zen. Und ver­bal trai­nie­ren wir auch“, sagt Karin Thiel. Ein Teil der Tech­ni­ken ent­sprin­gen dem Kae-In-Sog-In – was aus dem Korea­ni­schen über­setzt „Viel­falt“ heißt. Die­se spe­zi­ell für Men­schen mit Behin­de­rung ent­wi­ckel­te Selbst­ver­tei­di­gung mischt Ele­men­te ver­schie­dens­ter Kampf­küns­te – bei­spiels­wei­se Kara­te, Judo, Jiu Jitsu oder Tae­kwon­do – und passt sie den Fähig­kei­ten der ein­zel­nen Teil­neh­mer an.

Meist macht Karin Thiel Paar­übun­gen, bei Roll­stuhl­fah­rern ist der Part­ner häu­fig die Begleit­per­son. So auf­ge­stellt führt sie die Sport­wil­li­gen an Bewe­gungs-Übun­gen her­an. Erfah­rungs­ge­mäß sind die Teil­neh­mer zunächst ein­mal zöger­lich. Karin Thiel schafft es aber schnell, sie aus der Reser­ve zu locken. Wie? Die Trai­ne­rin lacht: „Wenn die Run­de nicht so rich­tig in Schwung kommt, sage ich immer: Denkt an jeman­den, den ihr über­haupt nicht mögt. So einen gibt es immer!“ Und schon tau­en die Teil­neh­mer auf und wer­den muti­ger. Aber einen Aspekt stellt sie auch von vorn­her­ein klar: „Wir möch­ten nicht die­je­ni­gen sein, die aggres­siv sind und anfan­gen zu stän­kern. Nur dann, wenn es nötig ist, weh­ren wir uns. Und zwar richtig.“

Das ist nur ein Teil ihrer Lehr­me­tho­de. Weil Karin Thiel nicht nur eine dyna­mi­sche und selbst­be­wuss­te, son­dern auch eine ein­falls­rei­che und krea­ti­ve Frau ist, hat sie vie­le Übungs­ein­hei­ten selbst erfun­den. So bin­det sie bei­spiels­wei­se ver­ba­le Ein­hei­ten in ihre Kur­se ein. Laut zu wer­den, deut­lich sei­ne Hal­tung aus­zu­drü­cken und gezielt zu dis­ku­tie­ren sind wich­ti­ge sprach­li­che Elemente.

Ver­tei­di­gung macht Eindruck

Karin Thiel macht vie­len Men­schen Mut. Sie schöpft aus ihren eige­nen Reser­ven und gibt das, was sie selbst im Lau­fe der Jah­re auf­ge­baut hat, ab: phy­si­sche und psy­chi­sche Kraft. Wich­tig ist dabei erst ein­mal – egal ob behin­dert oder nicht – eine auf­rech­te Kör­per­hal­tung und eine ener­ge­ti­sche Kör­per­span­nung auf­zu­bau­en. Wer kraft­voll, gestreckt und gera­de geht, sym­bo­li­siert sei­nem Gegen­über, dass er Selbst­be­wusst­sein und ‑ver­trau­en in sich hat. Die­se Grund­ein­stel­lung ver­deut­licht inne­re Stär­ke und ist schon ein­mal die hal­be Mie­te. Dabei ver­mit­telt Karin Thiel, dass es immer einen Weg für eine Lösung gibt. „Das geht nicht, das bekom­me ich nicht hin!“ gibt es bei ihr nicht. Gemein­sam mit ihren Teil­neh­mern fin­det sie einen Weg.

Belei­di­gun­gen und tät­li­che Angrif­fe gehö­ren nicht nur für behin­der­te Men­schen zu Gege­ben­hei­ten, die psy­chi­sche Spu­ren hin­ter­las­sen. Um die­se nicht dau­er­haft mit sich her­um­tra­gen zu müs­sen, ist es wich­tig, Signa­le früh­zei­tig zu erken­nen und ihnen etwas ent­ge­gen­zu­set­zen: sich weh­ren. Vie­len Kurs­teil­neh­mern hat Karin Thiel so den Weg zu einem selbst­be­stimm­ten Leben geebnet.

Das zeigt auch das schö­ne Bei­spiel einer Roll­stuhl­fah­re­rin, die trau­rig und ein­ge­schüch­tert zum Kurs kam. Ihr Mann, auch geh­be­hin­dert, und sie erfuh­ren immer Belei­di­gun­gen durch den Nach­barn. Der betrat uner­laubt das Grund­stück des ver­meint­lich hilf­lo­sen Ehe­paa­res, beschimpf­te bei­de Part­ner und schubs­te sie sogar.

Karin Thiel arbei­te­te mit der Frau an dem Pro­blem. Sie gab ihr Mög­lich­kei­ten an die Hand, wie sie dage­gen ankommt. Selbst­be­wusst sein ist ein Schlüs­sel­wort, dann dem Stö­ren­fried ver­bal den Wind aus den Segeln neh­men. „Da darf man schon ein­mal laut und grob wer­den“, sagt Karin Thiel. „Es gibt vie­le Mög­lich­kei­ten, auch rela­tiv ein­fa­che und ein biss­chen wit­zi­ge Metho­den: zum Bei­spiel den Gar­ten­schlauch anstel­len und den unge­be­te­nen Gast per Was­ser­strahl ver­trei­ben.“ Im End­ef­fekt kann sich neben all die­sen Metho­den eben­so eine recht­li­che Bera­tung vor­teil­haft aus­wir­ken. Auch in die­ser Rich­tung wird Karin Thiel, in Koope­ra­ti­on mit einem Rechts­an­walt, tätig.

Die Roll­stuhl­fah­re­rin hat es jeden­falls geschafft, sich gegen den unge­lieb­ten Nach­barn zu behaup­ten. Karin Thiel hat sie eine Woche nach Kur­sen­de ange­ru­fen und nach­ge­fragt, ob das Pro­blem gelöst sei. „Der?“, hieß es am ande­ren Ende der Tele­fon­lei­tung, „dem habe ich deut­lich mei­ne Mei­nung gesagt. Dabei saß ich ker­zen­ge­ra­de im Roll­stuhl und mein Mann stand neben mir. Wir haben ihn fest ange­se­hen und gesagt, dass wir uns sein Ver­hal­ten nicht mehr gefal­len las­sen. Mein Mann hat dann noch recht bestimmt mit sei­ner Geh­hil­fe in sei­ne Rich­tung gewie­sen. Da ist er abge­dampft und wur­de nicht mehr gesehen.“

War­um Selbstverteidigung?

Wenn man sich ver­tei­di­gen kann – und das kann man auch als behin­der­ter Mensch sehr gut – ist man fähig, dem Angrei­fer etwas ent­ge­gen­zu­set­zen. „Die Men­schen kom­men aus ganz unter­schied­li­chen Grün­den zu mir“, sagt Karin Thiel. „Man­che haben Angst, allei­ne zum Bei­spiel nachts unter­wegs zu sein, ande­re haben schlech­te Erfah­run­gen gemacht und sind belei­digt wor­den. Das muss man sich nicht bie­ten las­sen.“ Leb­haft und humor­voll ver­mit­telt die 54-Jäh­ri­ge ihr Wis­sen. Ihr Tem­pe­ra­ment über­trägt sich auf die Run­de. Was sie ganz beson­ders authen­tisch macht, ist, dass sie selbst ein Han­di­cap hat. Dabei demons­triert Karin Thiel, dass man gut damit leben kann.

Ins­be­son­de­re Men­schen mit Han­di­cap sind in ver­schie­de­nen Lebens­la­gen mehr gefor­dert als Men­schen ohne. Allein schon der All­tag ist für sie deut­lich schwie­ri­ger zu bewäl­ti­gen. Oft kommt noch eine feh­len­de Wert­schät­zung, Respekt­lo­sig­keit und Aner­ken­nung sei­tens der Mit­men­schen dazu. „Es gibt aber auch das Gegen­teil: über­trie­be­ne Anteil­nah­me“, weiß Karin Thiel aus eige­ner Erfah­rung. Mit­leid und das Abneh­men aller anfal­len­den Hand­grif­fe sind eben­falls kei­ne gute Reak­ti­on, Behin­der­ten zu begeg­nen. Gera­de aber für nicht-wert­schät­zen­de Atta­cken sind Trai­nings, wie die Selbst­ver­tei­di­gungs­kur­se von Karin Thiel, eine geziel­te Stär­kung der Teil­neh­mer, auf sol­che Reak­tio­nen zu reagie­ren. Die­se sol­len ler­nen, dass sie genau­so wer­tig wie ande­re Men­schen sind, dass sie natür­lich Stär­ken und Schwä­chen haben und ein­fach „ganz nor­mal“ sind.

Mit Spaß und Action trotz Beein­träch­ti­gun­gen zu trai­nie­ren und dabei die Selbst­kon­trol­le zu ver­bes­sern sind Zie­le, die am Ende jeder Kurs­ein­heit ste­hen. Egal ob mit oder ohne Han­di­cap, ein wei­te­res Ziel besteht dar­in, Über­grif­fe ein­zu­schät­zen, die rich­ti­ge Abwehr­me­tho­de her­aus­zu­fil­tern und Anfein­dun­gen gestärkt ent­ge­gen­zu­tre­ten. Um das opti­mal zu schaf­fen, muss man erst ein­mal sei­ne Gren­zen ken­nen. Bei behin­der­ten Men­schen sind die­se meist offen­sicht­lich. So kann jemand, der wie Karin Thiel im Roll­stuhl sitzt, sich nicht durch Trit­te ver­tei­di­gen. Hier setzt die Trai­ne­rin indi­vi­du­ell an und über­legt sich Metho­den, die pass­ge­nau auf den jewei­li­gen Teil­neh­mer zuge­schnit­ten sind. Theo­re­ti­sche Lern­in­hal­te wech­selt sie mit prak­ti­schen Übun­gen ab. Das Niveau steigt vom Anfän­ger­kurs zum Auf­bau­kurs, indem sich die Her­aus­for­de­run­gen ver­än­dern. Wich­tig ist Karin Thiel auch, dass über Sor­gen, Ängs­te und nega­ti­ve Erfah­run­gen gespro­chen wird. „Ver­trau­en zu sich und den ande­ren zu ent­wi­ckeln, sind Grund­vor­aus­set­zun­gen, um in der Offen­si­ve stark zu sein.“

Behin­de­rung als Chance

Karin Thiel sieht ihre Behin­de­rung als Chan­ce. Allein ihr bun­ter Roll­stuhl drückt schon Lebens­be­ja­hung aus. „Dadurch, dass ich mir bewusst bin, dass ich krank bin, aber für mei­nen Kör­per und mich etwas tue, steue­re ich der Krank­heit ent­ge­gen. Ich wer­de gelen­ki­ger, wer­de nicht faul und auch geis­tig – immer im Aus­tausch mit den vie­len Men­schen, die in mei­ne Kur­se kom­men – blei­be ich rege. Wach in jeder Hin­sicht, sei es geis­tig oder kör­per­lich, zu sein, zeigt mir, dass ich mich selbst schät­ze. Und wenn ich mich ach­te, ach­tet mich auch mei­ne Umwelt. Selbst­ver­tei­di­gung bedeu­tet dabei für mich Freu­de, Frei­heit und Spaß.“

So viel Zeit Karin Thiel auch in die Anti­ge­walt­trai­nings steckt, ihre ein­zi­ge Facet­te ist die­ser Sport nicht. So besuch­te sie in der Ver­gan­gen­heit Kran­ken­häu­ser als Kli­nik­clown. Bis heu­te formt sie Luft­bal­lon­fi­gu­ren, um Kin­der in Kin­der­ta­ges­stät­ten oder Kran­ke in Kli­ni­ken zu erfreu­en. Außer­dem berät sie Fach­per­so­nal, pfle­gen­de Ange­hö­ri­ge und Betrof­fe­ne hin­sicht­lich der Hilfs­mit­tel­wahl, zum Bei­spiel wel­che genau man benö­tigt und wel­che Art die rich­ti­gen sind. Sie gibt Roll­stuhl­kur­se für Begleit­per­so­nen, denn es ist gar nicht so ein­fach, sich mit Roll­stuhl samt Insas­sen durch die Stadt zu bewe­gen. Wie über­win­det man Geh­steig­kan­ten, wie kommt man kraft­spa­rend einen Berg hin­auf oder geht es, Roll­trep­pe zu fah­ren? Das sind nur eini­ge Fra­gen von vielen.

Immer ver­bin­det Karin Thiel die­se Din­ge mit Witz, guter Lau­ne und Ideen­reich­tum. So hat sie schon Roll­stuhl-Spie­le und Roll­stuhl-Züge in der Bam­ber­ger Innen­stadt initi­iert. Sie demons­triert damit, wie nor­mal und mit­un­ter auch lebens­be­ja­hend ein Leben mit Behin­de­rung sein kann. Und sie zeigt, wie man die Angst vor unvor­her­ge­se­he­nen Situa­tio­nen ver­lie­ren kann. „Auch wir Roll­stuhl­fah­rer müs­sen ler­nen, dass Hil­fe nicht von selbst kommt. So müs­sen wir den Mund auf­ma­chen und ein­fach fra­gen, ob uns jemand hilft. Wir den­ken, das müss­te jeder sehen. Aber dem ist nicht so. Das Kind beim Namen genannt hel­fen vie­le Pas­san­ten ger­ne, wenn sie direkt auf das Pro­blem ange­spro­chen werden.“

Natür­lich ist ein Leben im Roll­stuhl kein Zucker­schle­cken, aber es ist mach­bar. Es kann unge­se­he­ne Mög­lich­kei­ten eröff­nen: Sei es einen Selbst­ver­tei­di­gungs­kurs zu besu­chen, ein­fach nur Mut zu schöp­fen, beweg­lich zu blei­ben oder Gemein­schaft zu erle­ben. Karin Thiel macht’s vor.