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Neue Musik

Kom­po­nist Jochen Neurath

„Musik ist alles, was die Wahr­neh­mung anregt“

Jochen Neu­r­a­th ist Kom­po­nist zeit­ge­nös­si­scher Musik. Sei­ne Wer­ke stei­gern die ohne­hin radi­ka­len Merk­ma­le des Gen­res mit­un­ter ins Extre­me. Auch Stil­le kann ein musi­ka­li­sches Aus­drucks­mit­tel sein. 
Jochen Neu­r­a­th, Foto: Sebas­ti­an Quenzer

Zeit­ge­nös­si­sche oder Neue Musik ist eine Strö­mung der klas­si­schen Musik, die Anfang des 20. Jahr­hun­derts ent­stand. Sie zeich­net sich vor allem durch eine Abwen­dung bezie­hungs­wei­se Ver­wei­ge­rung von Har­mo­nie, Melo­die und dem Ein­satz her­kömm­li­cher orches­tra­ler Instru­men­te aus. Klang­lich kommt sie aufs ers­te Hören oft dis­har­mo­nisch, sper­rig und unzu­gäng­lich daher. Die­se Ent­schei­dung gegen leich­te Ver­ständ­lich­keit stellt eine Hür­de dar, die zwar absicht­lich hoch­ge­legt wur­de, deren Über­win­dung aber auch unbe­kann­te Hör­erleb­nis­se bie­tet. Schon Arnold Schön­berg, einer der Begrün­der der Neu­en Musik, sag­te: „Wenn es Kunst ist, ist sie nicht für alle, und wenn sie für alle ist, ist sie kei­ne Kunst.“

Unge­wöhn­li­che Klänge

Jochen Neu­r­a­th beschäf­tigt sich schon seit Jugend­ta­gen mit der Neu­en Musik. Noch kei­ne 20 Jah­re alt schrieb er 1985 mit­tels selbst­bei­ge­brach­ten kom­po­si­to­ri­schen Hand­werks­zeu­ges sei­ne ers­te Sym­pho­nie. „Sym­pho­ny of death“ heißt das Jugend­werk. „In der Hybris, die man in die­sem Alter nun mal hat, war es ein Ver­such, mit den Mit­teln der zeit­ge­nös­si­schen Musik – also die, die ich damals kann­te – den Pro­zess des Ster­bens zu gestal­ten und einen Zustand danach zu entwerfen.“

Unab­hän­gig davon, wie um Tief­gang bemüht das Werk geklun­gen haben mag oder muss – es ver­ein­fach­te doch Neu­r­a­ths Weg in ein Musik- und Kom­po­si­ti­ons­stu­di­um in Ber­lin und spä­ter Ham­burg und noch spä­ter in die Selbst­stän­dig­keit als Kom­po­nist. Heu­te umfasst sein Werk meh­re­re Orchester-

stü­cke, Kam­mer­mu­sik, Vokal­kom­po­si­tio­nen, Adap­tio­nen lite­ra­ri­scher Vor­la­gen und eine Oper. Ein Kar­rie­re­high­light war sei­ne Orches­ter­fas­sung der Gold­berg-Varia­tio­nen von Johann Sebas­ti­an Bach, ein Auf­trag von Ric­car­do Chail­ly, die das Gewand­haus­or­ches­ter Leip­zig 2012 urauf­führ­te. Außer­dem ist er Grün­dungs­mit­glied und 2. Vor­sit­zen­der des Ver­eins „Neue Musik in Bam­berg“ und der einen oder dem ande­ren womög­lich durch sei­ne Kon­zer­te auf dem his­to­ri­schen Vor­läu­fer des Kla­viers, dem Cla­vichord, in der Buch­hand­lung Heil­mann bekannt.

Spe­zia­li­siert man sich jedoch in einer sowie­so schon spe­zi­el­len Dis­zi­plin, lässt sich der Lust nach Tief­gang zwar hem­mungs­los frö­nen, mit her­bei­strö­men­den Publi­kums­mas­sen soll­te man aber nicht rech­nen. „Das Sys­tem der klas­si­schen Musik in sei­ner der­zei­ti­gen Form braucht eigent­lich kei­ne Kom­po­nis­ten, weil es sich haupt­säch­lich auf längst gestor­be­ne Kom­po­nis­ten bezieht. Der Musik­be­trieb ist muse­al, die Klas­si­ker wer­den aus­ge­stellt. Bei Neu­er Musik kommt dazu, dass sie sich ziem­lich in eine Sack­gas­se manö­vriert hat und in der öffent­li­chen Wahr­neh­mung prak­tisch kei­ne Rol­le spielt.“ 

Das möch­te Jochen Neu­r­a­th ändern. Neue Musik muss öfter gehört wer­den. Denn durch wie­der­hol­te Begeg­nung kön­nen sich Gewöh­nung und Ver­ständ­nis ein­stel­len. „Ich kann Neue Musik genie­ßen, weil ich mich stän­dig und berufs­mä­ßig mit ihr beschäf­ti­ge. Trotz­dem ist sie auch für mich eine Mög­lich­keit, neu und genau hin­hö­ren zu ler­nen. Ich war immer an neu­en Wegen inter­es­siert, wie sie sonst in der Musik nicht vor­kom­men und mit denen man das Ohr auf eine bestimm­te Wei­se schär­fen kann, sei es durch neue, unge­wöhn­li­che Klän­ge, sei es durch Reduk­ti­on, anhand derer ein ein­zel­ner simp­ler Klang an Bedeu­tung gewinnt – oder sei es durch Stille.“

nonoi­se

Wie sich das anhö­ren, bezie­hungs­wei­se, dass auch etwas dadurch häu­fi­ger zu Gehör gebracht wer­den kann, dass es wenig bis hin zu nichts zu hören gibt, bezie­hungs­wei­se wie umfas­send und rück­sichts­los mit ande­ren Wor­ten Neue Musik musi­ka­li­sche Kon­ven­tio­nen abstrei­fen kann, lässt sich gut an Neu­r­a­ths jüngs­ter Kom­po­si­ti­on „nonoi­se – echo­es of unborn thoughts“ verdeutlichen. 

Als Ein­stieg in die Neue Musik taugt es zwar eher nicht – zu extrem ist sei­ne Kom­po­si­ti­on –, zur Ver­an­schau­li­chung oder Aus­lo­tung der Mög­lich­kei­ten der Neu­en Musik und der Musik über­haupt könn­te es jedoch pas­sen­der nicht sein.

Bis­her ein­mal in der Johan­nis­ka­pel­le auf­ge­führt, bewegt sich „nonoi­se“ zwi­schen Kon­zert und Per­for­mance, ist eine Kom­po­si­ti­on anhand zahl­rei­cher außer­mu­si­ka­li­scher Mate­ria­li­en, die Geräu­sche, Raum, Kör­per und stil­le Pas­sa­gen in sich ver­eint. Die 12 Lai­en-Dar­stel­ler/-Musi­ker bewe­gen sich im Raum, lau­fen zwi­schen den Publi­kums­rei­hen hin und her und erzeu­gen an Wän­den, Boden, Ein­rich­tung und ihren Kör­pern ver­schie­dens­te Geräu­sche. Teil­wei­se, aber kei­nes­falls melo­disch, bedie­nen sie die Orgel, indem sie mit klei­nen eiser­nen Gewich­ten eine Tas­te beschwe­ren, sie so unten- und einen Ton auf­recht­erhal­ten. Oder sie lesen klei­ne Tex­te vor und quet­schen ein Akkor­de­on. „Mit die­ser schein­ba­ren Zusam­men­hangs­lo­sig­keit möch­te ich ver­mit­teln, nicht auf eine mög­li­che Bot­schaft in den Klän­gen, son­dern auf die Klän­ge sel­ber zu hören.“

Schon der Titel deu­tet dar­auf hin, was damit gemeint ist. Das Stück lie­fert ein klang­li­ches Fun­da­ment aus Geräu­schen, Schrit­ten, Stim­men und eini­gen Tönen von Instru­men­ten, auf dem Gedan­ken, Ideen oder Gefüh­le in eine bestimm­te Rich­tung ange­sto­ßen, aber dann nicht wei­ter­ver­folgt wer­den. Wei­ter­füh­ren­de Inter­pre­ta­tio­nen oder indi­vi­du­el­le, mit den Klän­gen ver­bun­de­ne Gefüh­le sol­len sich im Den­ken und Füh­len des Publi­kums einstellen. 

„Das Publi­kum wird durch ver­schie­de­ne Gefühls­si­tua­tio­nen geführt, die sich auf­ein­an­der bezie­hen, als wenn sie eine Erzäh­lung wären. Wenn man die­se Erzäh­lung aber nach­er­zäh­len könn­te, hät­te ich etwas falsch gemacht. Die musi­ka­li­schen Mit­tel, die Sinn­lich­keit der Musik, sol­len für sich spre­chen und die Mög­lich­keit, eine Geschich­te mit­den­ken oder mit­emp­fin­den zu kön­nen, in ihnen nur mitschwingen.“

Zur Ver­deut­li­chung steht Jochen Neu­r­a­th wäh­rend des Inter­views auf, geht zu sei­nem Kla­vier und schlägt einen Ton an. Nach eini­gen Momen­ten ist die­ser natur­ge­mäß wie­der ver­klun­gen. Aber: „Man hat ihn viel­leicht noch im Ohr, im Kopf klingt er wei­ter. Das ist für mich viel wich­ti­ger, als die Tat­sa­che, dass gera­de eine Tas­te gedrückt wurde.“ 

Die Musik geht wei­ter, ohne dass etwas zu hören wäre. Fol­ge­rich­tig­keit ist Gefühls­sa­che. „Die Hörer ver­ste­hen nicht war­um, aber sie spü­ren, dass es rich­tig ist. Wenn sich die­ses Gefühl ein­stellt, ist musi­ka­li­sche Rich­tig­keit da.“ 

Es sei aller­dings ein gefähr­li­ches Feld, weil man banal­er­wei­se nie wis­sen kön­ne, was in den Köp­fen vor­geht. Genug Leu­te gäbe es, die die­se Her­an­ge­hens­wei­se an Musik lang­wei­lig fän­den. Man müs­se schon bereit sein, sich dar­auf ein­zu­las­sen, um nicht zu sagen, das als Musik zu akzep­tie­ren. „Die ers­te Kopf­leis­tung fin­det schon vor dem Hören statt. Es bedarf einer Vor­bil­dung in Emp­find­sam­keit und einer Emp­fäng­lich­keit für Klän­ge oder akus­ti­sche Anregungen.“

Jochen Neu­r­a­th nennt die­se Art der musi­ka­li­schen Ver­äu­ße­rung „Ima­gi­nä­re Musik“. „Das, was im Hörer wei­ter­schwingt, ist für mich im Grun­de die Musik. Die­ses Wei­ter­schwin­gen, die­se Ima­gi­na­ti­on von Musik, fin­de ich oft viel stär­ker als das, was tat­säch­lich erklingt. Ich ver­su­che, die Vor­ga­ben von der Kom­po­nis­ten­sei­te so nied­rig wie mög­lich zu hal­ten, damit das, was im Kopf pas­siert umso lau­ter erklingt. Musik ist alles, was die Wahr­neh­mung anregt.“ 

Dass dies einen sehr groß­zü­gig gefass­ten Begriff des­sen, was Musik sein kann, dar­stellt, weiß Neu­r­a­th. Was ihn aber nicht hin­dert, das, was klingt, noch wei­ter zu redu­zie­ren. In sei­nen Wer­ken und in „nonoi­se“ ganz beson­ders macht nicht nur der rea­le oder ima­gi­nier­te Ton die rea­le oder ima­gi­nier­te Musik. Ent­schei­dend bei­tra­gen kön­nen neben Pas­sa­gen vor­ge­le­se­ner Tex­te auch laut­lo­se Sequen­zen und Bewe­gung von Kör­pern. Wer was wann wo macht. Oder eben nicht. „Bei „nonoi­se“ kön­nen an der einen Sei­te des Rau­mes erzeug­te Töne für mich etwas voll­kom­men ande­res sein als Töne, die von der ande­ren Sei­te kommen.“ 

Inso­fern sei sogar ein Musik­stück in völ­li­ger Stil­le durch­aus vor­stell­bar. Ein Stück, in dem nur immer mal wie­der jemand von A nach B gehe und sich so die Kon­stel­la­tio­nen im Raum ver­än­dern wür­den. Dies wäre ein Musik­stück, das man nicht hören, son­dern nur sehen könn­te – sehen müss­te, um es wahrzunehmen. 

Die Fra­ge, ob ein sol­ches Werk noch als Musik durch­ge­hen könn­te, ist annä­hernd so alt wie die Neue Musik selbst. Und seit­her unbe­ant­wor­tet. Ange­sto­ßen wur­de sie bereits in den 50ern vom ame­ri­ka­ni­schen Kom­po­nis­ten John Cage. Des­sen Werk „4‘33“ sah nichts wei­ter als einen Pia­nis­ten vor, der sich an sein Instru­ment setzt, den Kla­vier­de­ckel öff­net, vier Minu­ten und 33 Sekun­den bewe­gungs­los und vor allem still ver­harrt, um den Deckel dann wie­der zu schlie­ßen und zu gehen. Cage ließ dabei außer­dem offen, ob das Nicht-Erklin­gen des Kla­viers oder zufäl­li­ge Hin­ter­grund­tö­ne wie Stra­ßen­ge­räu­sche oder Räus­pern die musi­ka­li­sche Sub­stanz ausmachen. 

In der Par­ti­tur des Werks herrscht ent­spre­chen­de Lee­re, was sie der Par­ti­tur von „nonoi­se“ ähn­lich macht. Nur, dass sich in zwei­te­rer regie­an­wei­sungs­ar­ti­ge Vor­ga­ben wie „Ziel­stre­big zu Zet­teln an der Wand gehen“ fin­den. „nonoi­se ist aber weder Schau­spiel, noch Per­for­mance. All das, was man wahr­nimmt, hört und sieht, defi­nie­re ich im Kon­text des Stücks als Musik. Auch wenn es ein stil­les Gehen ist oder ein Spre­chen von Text oder zwei sich gegen­über­ste­hen­de Menschen.“

nonoi­se

Nächs­tes Kon­zert: Ele­gie. Oder Ode. (An Fried­rich H.)

(zu Fried­rich Höl­der­lins 250. Geburts­tag), in Zusam­men­ar­beit mit der VHS Bam­berg Stadt

Vor­aus­sicht­lich 9. Okto­ber, 20 Uhr und 10. Okto­ber, 17 Uhr, Kapel­le, Hotel Residenzschloss

Wei­te­re Infor­ma­tio­nen und Anmel­dung zur Mit­wir­kung bei nonoi­se unter: www.nonoisemusic.de