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Selbstverteidigung

Selbst­ver­tei­di­gung mit Gehstock

Cane Fu: „Wir haben einen Stock, war­um machen wir nichts daraus?“

Cane Fu ist Selbst­ver­tei­di­gung mit Hil­fe eines Geh­stocks oder Regen­schirms. Abge­stimmt auf die kör­per­li­chen Fähig­kei­ten sei­ner Kurs­teil­neh­me­rin­nen und ‑teil­neh­mer ver­mit­telt Jan Fitz­ner die selbst­er­schaf­fe­ne Tech­nik des Sports.

In sei­nen vie­len Jah­ren als Fach­arzt für All­ge­mein­me­di­zin hat­te Dr. Jan Fitz­ner, mitt­ler­wei­le im Ruhe­stand, viel­fa­chen Kon­takt zu älte­ren Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten. Eini­ge die­ser Senio­rin­nen und Senio­ren klag­ten ihm regel­mä­ßig über ihre Ängs­te, abends oder nachts das Haus zu ver­las­sen – zu gefähr­lich sei es ihnen dann auf der Stra­ße. Meist fiel Fitz­ner dabei aber auch auf, dass „die­se Leu­te nicht ein­mal ein Han­dy für Not­ru­fe oder viel­leicht so etwas wie Trä­nen­gas haben. Es ist oft ein Jam­mern, ohne dass etwas getan wird, gegen sol­che Ängs­te“, sagt der 68-Jährige.

Die­ses Sich-hän­gen-las­sen habe ihn lan­ge Zeit gewurmt. Da sich Jan Fitz­ner aber schon seit Jahr­zehn­ten mit Kampf­küns­ten beschäf­tigt, Wing Chun-Kung Fu als Fort­ge­schrit­te­ner trai­nier­te und Schwarz­gurt­trä­ger des Ken­ko-Kem­po-Kara­te ist, habe er sich ent­spre­chend eine Selbst­ver­tei­di­gungs­mög­lich­keit gesucht, die auch Senio­rin­nen und Senio­ren aus­füh­ren und umset­zen könnten.

„Ich fin­de es sinn­voll, dass älte­re Men­schen sich bewe­gen und Sport machen, aber es müs­sen nicht unbe­dingt die übli­chen Gym­nas­tik­kur­se sein. Die Bewe­gun­gen der Übun­gen kön­nen noch einen zwei­ten Sinn haben. Die­ser kann dar­in bestehen, drauf­hau­en zu kön­nen, wenn man es ein­mal braucht. Wir haben einen Stock, war­um machen wir nichts daraus?“

Eini­ge Stock­kampf­me­tho­den wie Fech­ten, iri­scher, ita­lie­ni­scher und asia­ti­scher Stock­kampf habe er aus­pro­bie­ren müs­sen, um die­se Fra­ge zu beant­wor­ten und um eine Dis­zi­plin zu fin­den, die sport­li­che Betä­ti­gung um Selbst­ver­tei­di­gungs­ele­men­te mit Regen­schir­men und Geh­stö­cken erwei­tert. Anfang der 2000er stieß Fitz­ner dann auf Cane Fu. Der Name die­ser Stock­kampf­va­ri­an­te setzt sich zusam­men aus einem Namens-Teil der chi­ne­si­schen Kampf­tech­nik Kung Fu und dem eng­li­schen Wort für Geh­stock, „Cane“. Die Ursprungs­ver­si­on des Cane Fu aus den USA bedient die sport­li­che Rubrik der Senio­ren­gym­nas­tik, indem die Teil­neh­men­den gym­nas­ti­sche Übun­gen mit Stö­cken und ange­täusch­ten Schlä­gen machen. Die­se schat­ten­bo­xen­ar­ti­ge Aus­le­gung ging Fitz­ner in die rich­ti­ge Rich­tung, war aber noch nicht prak­tisch genug. „Wir gehen das här­ter an, denn ich habe einen Selbst­ver­tei­di­gungs­fo­kus reingebracht.“

Und tat­säch­lich: Cane Fu in der Inter­pre­ta­ti­on, die Fitz­ner lehrt, ist neu. Aus­ge­hend von den Maß­ga­ben der Senio­ren­gym­nas­tik und sei­nem in ande­ren Stock­kampf­dis­zi­pli­nen erwor­be­nen Kön­nen, ent­wi­ckel­te Fitz­ner sei­ne eige­ne Cane Fu-Ver­si­on: Kör­per­lich nicht zu anstren­gend, aber mit kla­rem Selbstverteidigungsfokus.

„Ich habe ein Pro­gramm aus­ge­ar­bei­tet, bei dem man nicht wie bei ande­ren Kampf­küns­ten erst mal fünf Jah­re lang fal­len und abrol­len üben muss – das geht nur auf die Osteo­po­ro­se und Arthro­se mei­ner Teil­neh­me­rin­nen und Teil­neh­mer. Mit Cane Fu bie­te ich Kur­se an, bei denen Senio­rin­nen und Senio­ren bei null anfan­gen können.“

Der Stich
Cane Fu
Die Abwehr­hal­tung
Schlä­ge, Stö­ße und Stiche

Sei­ne ers­ten Cane Fu-Kur­se gab Jan Fitz­ner 2013. Zuvor hat­te er sich, nach lan­ger Suche nach einem Leh­rer, in der Dis­zi­plin aus­bil­den las­sen. In Bam­berg, wo er seit einem Jahr lebt, gab er bereits Kur­se in der Sozi­al­stif­tung und der VHS. Ab März geht es an letz­te­rer Stel­le mit neu­en Kur­sen weiter.

Selbst­ver­tei­di­gung fängt für Fitz­ner aber nicht mit dem Ein­satz der Faust oder eines Stocks an, son­dern beginnt zunächst mit all­ge­mei­nen Vor­sichts­maß­nah­men, wie Selbst­be­wusst­sein und ein selbst­si­che­res Auf­tre­ten zu ent­wi­ckeln. Erst zuletzt kom­men Über­le­gun­gen zur kör­per­li­chen Ver­tei­di­gung hin­zu, was beim Cane-Fu Abwehr und Eigen­schutz durch den Ein­satz eines Schir­mes oder Geh­sto­ckes bedeutet.

Cane Fu kön­nen all die­je­ni­gen betrei­ben, die Geh­stock oder Regen­schirm noch weit genug nach oben heben kön­nen, um zum Schlag aus­zu­ho­len. Die ältes­te Teil­neh­me­rin in einem der Kur­se Jan Fitz­ners war sogar 96 Jah­re alt. Eine grö­ße­re Aus­dau­er ist nicht erfor­der­lich, da ein­zel­ne Trai­nings-Aktio­nen kurz gehal­ten sind.

„Wer aller­dings selbst zu kurz­zei­ti­gem Ste­hen und Gehen auf sei­nen Stock ange­wie­sen ist, wird zwar vom all­ge­mei­nen Spre­chen über Gefah­ren­si­tua­tio­nen und Vor­sichts­maß­nah­men und eini­gen stock- oder schirm­frei­en Selbst­ver­tei­di­gungs­tech­ni­ken pro­fi­tie­ren, die gesam­te Band­brei­te des Cane-Fu wird er aller­dings nicht nut­zen kön­nen. Was aber für alle gilt: Mit einem Mal ist es nicht getan. Wie so vie­les muss auch Cane-Fu geübt und trai­niert wer­den, damit es einem dann, wenn es dar­auf ankommt, auch auto­ma­tisch zur Ver­fü­gung steht.“

Cane Fu-Unter­richt

Zu Beginn der Unter­richts-Übun­gen führt Fitz­ner mit eini­gen Wor­ten in die Geschich­te des Cane Fu und sei­ne Vari­an­te ein, gibt Infor­ma­tio­nen zu Abwehr­sprays oder Not­wehr­recht und klärt über ver­schie­de­ne Stö­cke und deren Holz­ar­ten auf. „Buchen­holz zum Bei­spiel bricht leich­ter als Esche“, sagt er.

Im anschlie­ßen­den Schritt-Trai­ning, geht es dar­um zu ler­nen, wie man sicher steht und bei einem Stoß nicht sofort umfällt. Kör­per­wen­dun­gen, Dre­hun­gen und das Heben und Hal­ten von Schirm und Stock trai­nie­ren den gan­zen Kör­per. Dann geht es an die Waffen.

Zur Ver­fü­gung ste­hen beim Cane Fu für sei­ne Schlä­ge, Stö­ße und Sti­che Geh­stö­cke, Spa­zier­stö­cke oder, Jan Fitz­ners Lieb­lings­waf­fe, Regen­schir­me. Als Waf­fe kön­ne man natür­lich alle davon ein­set­zen, aber man müs­se auch an das Erschei­nungs­bild den­ken. „Geh­stö­cke haben ein biss­chen den Ruf, nur für alte Leu­te zu sein und Gebrech­lich­keit zu signa­li­sie­ren. Frü­her waren sie aber durch­aus auch modi­sches Acces­soire. Dar­um ist der Regen­schirm wegen sei­ner Funk­ti­on bezüg­lich die­ses Rufs unver­däch­ti­ger. Ich selbst gehe aller­dings gern mit einem Eben­holz­stock aus.“
Könn­te zur Selbst­ver­tei­di­gung im Cane Fu auch ein Rol­la­tor die­nen? „Nein, die kriegt man nicht über den Kopf zum Aus­ho­len. Allen­falls zum gegen das Schien­bein Fah­ren oder zum Schub­sen lässt er sich einsetzen.“

Im Trai­ning schla­gen die Teil­neh­me­rin­nen und ‑neh­mer der Rei­he nach kra­chend auf ein Schlag­pols­ter ein. Wich­tig beim bei­spiels­wei­se Schlag mit dem Stock von oben ist es, nicht aus dem Ellen­bo­gen­ge­lenk aus­zu­ho­len. Der­art bekommt man nicht genug Hebel und Schwung in die Bewe­gung. Von oben über dem Kopf, also aus dem Schul­ter­ge­lenk, weist Jan Fitz­ner sei­ne Schütz­lin­ge an, die Schlag­be­we­gung begin­nen zu las­sen. In wei­te­ren Trai­nings­ab­schnit­ten geht es um Stö­ße und Sti­che. Auch dafür eig­ne sich der spit­ze Regen­schirm besonders.

Mit einem sat­ten Schlag mit dem Geh­stock kön­ne man sich durch­aus Respekt ver­schaf­fen, denn „wenn man es rich­tig macht, kann man beim Aus­ho­len mit dem Stock drei Bewe­gun­gen über­la­gern: den Schwung aus dem Arm, den aus dem Hand­ge­lenk und den einer zusätz­li­chen Kör­per­dre­hung aus den Schul­tern. Der Stich ist aber die wich­tigs­te Posi­ti­on, weil er nur schwer abzu­weh­ren ist“, sagt Fitzner.

Ver­let­zun­gen gab es aller­dings noch kei­ne in Fitz­ners Cane Fu-Kur­sen. Die Teil­neh­me­rin­nen und Teil­neh­mer tra­gen kei­ne Kämp­fe gegen­ein­an­der aus, son­dern üben mit­ein­an­der. Wenn jemand einen Geg­ner brau­che, sei es die­ses Schlagpolster.

„Aber Cane Fu ist kei­ne Spie­le­rei“, sagt Fitz­ner, „Vor­kennt­nis­se sind zwar nicht nötig, aber die Leu­te kön­nen schon etwas zur Selbst­ver­tei­di­gung lernen.“

Ein­set­zen muss­te noch nie­mand, was sie oder er bei Jan Fitz­ner gelernt hat. Aber Rück­mel­dun­gen nach den Cane Fu-Kur­sen deu­ten dar­auf hin, dass das Selbst­ver­trau­en, sich zur Not zur Wehr set­zen zu kön­nen, in den Teil­neh­me­rin­nen und Teil­neh­mern gewach­sen und die oben erwähn­te Angst, das Haus zu ver­las­sen, ent­spre­chend gesun­ken ist. „Selbst erst nach ein paar Übungs­ein­hei­ten sagen Leu­te manch­mal zu mir“, sagt Jan Fitz­ner, „jetzt weiß ich, was ich tun kann, um mich zu verteidigen.“

Selbst­ver­tei­di­gung mit Handicap

Trai­ne­rin Karin Thiel

Karin Thiel gibt Unter­richt in Selbst­ver­tei­di­gung. Das tut sie glei­cher­ma­ßen für Men­schen mit wie auch für Men­schen ohne Behin­de­rung. Sie selbst lei­det an Mul­ti­pler Skle­ro­se und sitzt im Roll­stuhl. In die­sem Zustand Trai­ne­rin zu sein, ist kein leich­tes, aber ein muti­ges Unter­fan­gen. Es gibt ihr und ande­ren Kraft und schenkt Lebensfreude.

Schon immer woll­te Karin Thiel eine Kampf­sport­art ler­nen, aber sie hat sich nie getraut. Sie fühl­te sich kör­per­lich nicht stark genug. Erst das Aus­bre­chen ihrer Krank­heit hat sie dazu gebracht, ihrem Wunsch nach­zu­ge­hen. Dabei gab es kei­nen unmit­tel­ba­ren Anlass, wie etwa einen Angriff, dem sie aus­ge­setzt gewe­sen wäre. Viel­leicht aber spür­te die den Impuls, dass man plötz­lich mehr an sich, an sei­ne Wün­sche und Träu­me denkt, dass man aus einem Schat­ten­da­sein tritt und Mut fasst, sich zu verwirklichen.

Die Chan­ce nutzen

Mit 28 Jah­ren merk­te Karin Thiel, dass etwas mit ihr nicht stimm­te. Immer wie­der stol­per­te und stürz­te sie. Die Dia­gno­se: Mul­ti­ple Skle­ro­se. Trotz allem blieb sie opti­mis­tisch und auch kämp­fe­risch. Sie grün­de­te eine Fami­lie, zog ihren Sohn auf und stand bis zur Erwerbs­un­fä­hig­keit im Arbeits­le­ben. Begon­nen hat ihre Kar­rie­re in der Selbst­ver­tei­di­gung 2005, als Karin Thiel auf einer Mut­ter-Kind-Kur weil­te. Hier gab eine The­ra­peu­tin einen Anti­ge­walt­trai­nings-Kurs. Die jun­ge Mut­ter nutz­te die Chan­ce, nahm teil und fand Gefal­len. Der Grund­stein war gelegt.

Zwei Jah­re spä­ter nahm sie an wei­te­ren Kur­sen in Ulm, Kit­zin­gen und Bam­berg teil. So bau­te sie ihr Wis­sen und Kön­nen immer wei­ter aus. Schließ­lich leg­te sie als ers­te Frau und als ers­te Roll­stuhl­fah­re­rin in ganz Bay­ern im Behin­der­ten­sport die Prü­fung zur Fach­übungs­lei­te­rin ab. Seit­her agiert sie ehren­amt­lich selbst als Kurs­lei­te­rin – und das nicht nur in Bam­berg und Umge­bung, son­dern auch bei­spiels­wei­se in Rosen­heim, Starn­berg, Mün­chen oder Nürn­berg. Sie trai­niert Men­schen mit und ohne Han­di­cap, geht in Kin­der­ta­ges­stät­ten oder in kari­ta­ti­ve Einrichtungen.

Sport­li­che und ver­ba­le Elemente

Karin Thiels Ober­kör­per funk­tio­niert gut, die Bei­ne aller­dings nicht mehr. Wie ver­mit­telt sie in die­ser etwas schwie­ri­gen Ver­fas­sung die Ver­tei­di­gungs­tech­ni­ken? „Man­ches kann ich zei­gen, ande­re Din­ge erklä­re ich theo­re­tisch. Außer­dem arbei­te ich mit Hilfs­mit­teln, wie Schlag­stö­cken. Auch den Roll­stuhl kann man, mit der rich­ti­gen Hand­ha­be, als Ver­tei­di­gungs­in­stru­ment ein­set­zen. Und ver­bal trai­nie­ren wir auch“, sagt Karin Thiel. Ein Teil der Tech­ni­ken ent­sprin­gen dem Kae-In-Sog-In – was aus dem Korea­ni­schen über­setzt „Viel­falt“ heißt. Die­se spe­zi­ell für Men­schen mit Behin­de­rung ent­wi­ckel­te Selbst­ver­tei­di­gung mischt Ele­men­te ver­schie­dens­ter Kampf­küns­te – bei­spiels­wei­se Kara­te, Judo, Jiu Jitsu oder Tae­kwon­do – und passt sie den Fähig­kei­ten der ein­zel­nen Teil­neh­mer an.

Meist macht Karin Thiel Paar­übun­gen, bei Roll­stuhl­fah­rern ist der Part­ner häu­fig die Begleit­per­son. So auf­ge­stellt führt sie die Sport­wil­li­gen an Bewe­gungs-Übun­gen her­an. Erfah­rungs­ge­mäß sind die Teil­neh­mer zunächst ein­mal zöger­lich. Karin Thiel schafft es aber schnell, sie aus der Reser­ve zu locken. Wie? Die Trai­ne­rin lacht: „Wenn die Run­de nicht so rich­tig in Schwung kommt, sage ich immer: Denkt an jeman­den, den ihr über­haupt nicht mögt. So einen gibt es immer!“ Und schon tau­en die Teil­neh­mer auf und wer­den muti­ger. Aber einen Aspekt stellt sie auch von vorn­her­ein klar: „Wir möch­ten nicht die­je­ni­gen sein, die aggres­siv sind und anfan­gen zu stän­kern. Nur dann, wenn es nötig ist, weh­ren wir uns. Und zwar richtig.“

Das ist nur ein Teil ihrer Lehr­me­tho­de. Weil Karin Thiel nicht nur eine dyna­mi­sche und selbst­be­wuss­te, son­dern auch eine ein­falls­rei­che und krea­ti­ve Frau ist, hat sie vie­le Übungs­ein­hei­ten selbst erfun­den. So bin­det sie bei­spiels­wei­se ver­ba­le Ein­hei­ten in ihre Kur­se ein. Laut zu wer­den, deut­lich sei­ne Hal­tung aus­zu­drü­cken und gezielt zu dis­ku­tie­ren sind wich­ti­ge sprach­li­che Elemente.

Ver­tei­di­gung macht Eindruck

Karin Thiel macht vie­len Men­schen Mut. Sie schöpft aus ihren eige­nen Reser­ven und gibt das, was sie selbst im Lau­fe der Jah­re auf­ge­baut hat, ab: phy­si­sche und psy­chi­sche Kraft. Wich­tig ist dabei erst ein­mal – egal ob behin­dert oder nicht – eine auf­rech­te Kör­per­hal­tung und eine ener­ge­ti­sche Kör­per­span­nung auf­zu­bau­en. Wer kraft­voll, gestreckt und gera­de geht, sym­bo­li­siert sei­nem Gegen­über, dass er Selbst­be­wusst­sein und ‑ver­trau­en in sich hat. Die­se Grund­ein­stel­lung ver­deut­licht inne­re Stär­ke und ist schon ein­mal die hal­be Mie­te. Dabei ver­mit­telt Karin Thiel, dass es immer einen Weg für eine Lösung gibt. „Das geht nicht, das bekom­me ich nicht hin!“ gibt es bei ihr nicht. Gemein­sam mit ihren Teil­neh­mern fin­det sie einen Weg.

Belei­di­gun­gen und tät­li­che Angrif­fe gehö­ren nicht nur für behin­der­te Men­schen zu Gege­ben­hei­ten, die psy­chi­sche Spu­ren hin­ter­las­sen. Um die­se nicht dau­er­haft mit sich her­um­tra­gen zu müs­sen, ist es wich­tig, Signa­le früh­zei­tig zu erken­nen und ihnen etwas ent­ge­gen­zu­set­zen: sich weh­ren. Vie­len Kurs­teil­neh­mern hat Karin Thiel so den Weg zu einem selbst­be­stimm­ten Leben geebnet.

Das zeigt auch das schö­ne Bei­spiel einer Roll­stuhl­fah­re­rin, die trau­rig und ein­ge­schüch­tert zum Kurs kam. Ihr Mann, auch geh­be­hin­dert, und sie erfuh­ren immer Belei­di­gun­gen durch den Nach­barn. Der betrat uner­laubt das Grund­stück des ver­meint­lich hilf­lo­sen Ehe­paa­res, beschimpf­te bei­de Part­ner und schubs­te sie sogar.

Karin Thiel arbei­te­te mit der Frau an dem Pro­blem. Sie gab ihr Mög­lich­kei­ten an die Hand, wie sie dage­gen ankommt. Selbst­be­wusst sein ist ein Schlüs­sel­wort, dann dem Stö­ren­fried ver­bal den Wind aus den Segeln neh­men. „Da darf man schon ein­mal laut und grob wer­den“, sagt Karin Thiel. „Es gibt vie­le Mög­lich­kei­ten, auch rela­tiv ein­fa­che und ein biss­chen wit­zi­ge Metho­den: zum Bei­spiel den Gar­ten­schlauch anstel­len und den unge­be­te­nen Gast per Was­ser­strahl ver­trei­ben.“ Im End­ef­fekt kann sich neben all die­sen Metho­den eben­so eine recht­li­che Bera­tung vor­teil­haft aus­wir­ken. Auch in die­ser Rich­tung wird Karin Thiel, in Koope­ra­ti­on mit einem Rechts­an­walt, tätig.

Die Roll­stuhl­fah­re­rin hat es jeden­falls geschafft, sich gegen den unge­lieb­ten Nach­barn zu behaup­ten. Karin Thiel hat sie eine Woche nach Kur­sen­de ange­ru­fen und nach­ge­fragt, ob das Pro­blem gelöst sei. „Der?“, hieß es am ande­ren Ende der Tele­fon­lei­tung, „dem habe ich deut­lich mei­ne Mei­nung gesagt. Dabei saß ich ker­zen­ge­ra­de im Roll­stuhl und mein Mann stand neben mir. Wir haben ihn fest ange­se­hen und gesagt, dass wir uns sein Ver­hal­ten nicht mehr gefal­len las­sen. Mein Mann hat dann noch recht bestimmt mit sei­ner Geh­hil­fe in sei­ne Rich­tung gewie­sen. Da ist er abge­dampft und wur­de nicht mehr gesehen.“

War­um Selbstverteidigung?

Wenn man sich ver­tei­di­gen kann – und das kann man auch als behin­der­ter Mensch sehr gut – ist man fähig, dem Angrei­fer etwas ent­ge­gen­zu­set­zen. „Die Men­schen kom­men aus ganz unter­schied­li­chen Grün­den zu mir“, sagt Karin Thiel. „Man­che haben Angst, allei­ne zum Bei­spiel nachts unter­wegs zu sein, ande­re haben schlech­te Erfah­run­gen gemacht und sind belei­digt wor­den. Das muss man sich nicht bie­ten las­sen.“ Leb­haft und humor­voll ver­mit­telt die 54-Jäh­ri­ge ihr Wis­sen. Ihr Tem­pe­ra­ment über­trägt sich auf die Run­de. Was sie ganz beson­ders authen­tisch macht, ist, dass sie selbst ein Han­di­cap hat. Dabei demons­triert Karin Thiel, dass man gut damit leben kann.

Ins­be­son­de­re Men­schen mit Han­di­cap sind in ver­schie­de­nen Lebens­la­gen mehr gefor­dert als Men­schen ohne. Allein schon der All­tag ist für sie deut­lich schwie­ri­ger zu bewäl­ti­gen. Oft kommt noch eine feh­len­de Wert­schät­zung, Respekt­lo­sig­keit und Aner­ken­nung sei­tens der Mit­men­schen dazu. „Es gibt aber auch das Gegen­teil: über­trie­be­ne Anteil­nah­me“, weiß Karin Thiel aus eige­ner Erfah­rung. Mit­leid und das Abneh­men aller anfal­len­den Hand­grif­fe sind eben­falls kei­ne gute Reak­ti­on, Behin­der­ten zu begeg­nen. Gera­de aber für nicht-wert­schät­zen­de Atta­cken sind Trai­nings, wie die Selbst­ver­tei­di­gungs­kur­se von Karin Thiel, eine geziel­te Stär­kung der Teil­neh­mer, auf sol­che Reak­tio­nen zu reagie­ren. Die­se sol­len ler­nen, dass sie genau­so wer­tig wie ande­re Men­schen sind, dass sie natür­lich Stär­ken und Schwä­chen haben und ein­fach „ganz nor­mal“ sind.

Mit Spaß und Action trotz Beein­träch­ti­gun­gen zu trai­nie­ren und dabei die Selbst­kon­trol­le zu ver­bes­sern sind Zie­le, die am Ende jeder Kurs­ein­heit ste­hen. Egal ob mit oder ohne Han­di­cap, ein wei­te­res Ziel besteht dar­in, Über­grif­fe ein­zu­schät­zen, die rich­ti­ge Abwehr­me­tho­de her­aus­zu­fil­tern und Anfein­dun­gen gestärkt ent­ge­gen­zu­tre­ten. Um das opti­mal zu schaf­fen, muss man erst ein­mal sei­ne Gren­zen ken­nen. Bei behin­der­ten Men­schen sind die­se meist offen­sicht­lich. So kann jemand, der wie Karin Thiel im Roll­stuhl sitzt, sich nicht durch Trit­te ver­tei­di­gen. Hier setzt die Trai­ne­rin indi­vi­du­ell an und über­legt sich Metho­den, die pass­ge­nau auf den jewei­li­gen Teil­neh­mer zuge­schnit­ten sind. Theo­re­ti­sche Lern­in­hal­te wech­selt sie mit prak­ti­schen Übun­gen ab. Das Niveau steigt vom Anfän­ger­kurs zum Auf­bau­kurs, indem sich die Her­aus­for­de­run­gen ver­än­dern. Wich­tig ist Karin Thiel auch, dass über Sor­gen, Ängs­te und nega­ti­ve Erfah­run­gen gespro­chen wird. „Ver­trau­en zu sich und den ande­ren zu ent­wi­ckeln, sind Grund­vor­aus­set­zun­gen, um in der Offen­si­ve stark zu sein.“

Behin­de­rung als Chance

Karin Thiel sieht ihre Behin­de­rung als Chan­ce. Allein ihr bun­ter Roll­stuhl drückt schon Lebens­be­ja­hung aus. „Dadurch, dass ich mir bewusst bin, dass ich krank bin, aber für mei­nen Kör­per und mich etwas tue, steue­re ich der Krank­heit ent­ge­gen. Ich wer­de gelen­ki­ger, wer­de nicht faul und auch geis­tig – immer im Aus­tausch mit den vie­len Men­schen, die in mei­ne Kur­se kom­men – blei­be ich rege. Wach in jeder Hin­sicht, sei es geis­tig oder kör­per­lich, zu sein, zeigt mir, dass ich mich selbst schät­ze. Und wenn ich mich ach­te, ach­tet mich auch mei­ne Umwelt. Selbst­ver­tei­di­gung bedeu­tet dabei für mich Freu­de, Frei­heit und Spaß.“

So viel Zeit Karin Thiel auch in die Anti­ge­walt­trai­nings steckt, ihre ein­zi­ge Facet­te ist die­ser Sport nicht. So besuch­te sie in der Ver­gan­gen­heit Kran­ken­häu­ser als Kli­nik­clown. Bis heu­te formt sie Luft­bal­lon­fi­gu­ren, um Kin­der in Kin­der­ta­ges­stät­ten oder Kran­ke in Kli­ni­ken zu erfreu­en. Außer­dem berät sie Fach­per­so­nal, pfle­gen­de Ange­hö­ri­ge und Betrof­fe­ne hin­sicht­lich der Hilfs­mit­tel­wahl, zum Bei­spiel wel­che genau man benö­tigt und wel­che Art die rich­ti­gen sind. Sie gibt Roll­stuhl­kur­se für Begleit­per­so­nen, denn es ist gar nicht so ein­fach, sich mit Roll­stuhl samt Insas­sen durch die Stadt zu bewe­gen. Wie über­win­det man Geh­steig­kan­ten, wie kommt man kraft­spa­rend einen Berg hin­auf oder geht es, Roll­trep­pe zu fah­ren? Das sind nur eini­ge Fra­gen von vielen.

Immer ver­bin­det Karin Thiel die­se Din­ge mit Witz, guter Lau­ne und Ideen­reich­tum. So hat sie schon Roll­stuhl-Spie­le und Roll­stuhl-Züge in der Bam­ber­ger Innen­stadt initi­iert. Sie demons­triert damit, wie nor­mal und mit­un­ter auch lebens­be­ja­hend ein Leben mit Behin­de­rung sein kann. Und sie zeigt, wie man die Angst vor unvor­her­ge­se­he­nen Situa­tio­nen ver­lie­ren kann. „Auch wir Roll­stuhl­fah­rer müs­sen ler­nen, dass Hil­fe nicht von selbst kommt. So müs­sen wir den Mund auf­ma­chen und ein­fach fra­gen, ob uns jemand hilft. Wir den­ken, das müss­te jeder sehen. Aber dem ist nicht so. Das Kind beim Namen genannt hel­fen vie­le Pas­san­ten ger­ne, wenn sie direkt auf das Pro­blem ange­spro­chen werden.“

Natür­lich ist ein Leben im Roll­stuhl kein Zucker­schle­cken, aber es ist mach­bar. Es kann unge­se­he­ne Mög­lich­kei­ten eröff­nen: Sei es einen Selbst­ver­tei­di­gungs­kurs zu besu­chen, ein­fach nur Mut zu schöp­fen, beweg­lich zu blei­ben oder Gemein­schaft zu erle­ben. Karin Thiel macht’s vor.