Cane Fu ist Selbstverteidigung mit Hilfe eines Gehstocks oder Regenschirms. Abgestimmt auf die körperlichen Fähigkeiten seiner Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer vermittelt Jan Fitzner
... weiter
Selbstverteidigung mit Gehstock
Cane Fu: „Wir haben einen Stock, warum machen wir nichts daraus?“
Cane Fu ist Selbstverteidigung mit Hilfe eines Gehstocks oder Regenschirms. Abgestimmt auf die körperlichen Fähigkeiten seiner Kursteilnehmerinnen und ‑teilnehmer vermittelt Jan Fitzner die selbsterschaffene Technik des Sports.
In seinen vielen Jahren als Facharzt für Allgemeinmedizin hatte Dr. Jan Fitzner, mittlerweile im Ruhestand, vielfachen Kontakt zu älteren Patientinnen und Patienten. Einige dieser Seniorinnen und Senioren klagten ihm regelmäßig über ihre Ängste, abends oder nachts das Haus zu verlassen – zu gefährlich sei es ihnen dann auf der Straße. Meist fiel Fitzner dabei aber auch auf, dass „diese Leute nicht einmal ein Handy für Notrufe oder vielleicht so etwas wie Tränengas haben. Es ist oft ein Jammern, ohne dass etwas getan wird, gegen solche Ängste“, sagt der 68-Jährige.
Dieses Sich-hängen-lassen habe ihn lange Zeit gewurmt. Da sich Jan Fitzner aber schon seit Jahrzehnten mit Kampfkünsten beschäftigt, Wing Chun-Kung Fu als Fortgeschrittener trainierte und Schwarzgurtträger des Kenko-Kempo-Karate ist, habe er sich entsprechend eine Selbstverteidigungsmöglichkeit gesucht, die auch Seniorinnen und Senioren ausführen und umsetzen könnten.
„Ich finde es sinnvoll, dass ältere Menschen sich bewegen und Sport machen, aber es müssen nicht unbedingt die üblichen Gymnastikkurse sein. Die Bewegungen der Übungen können noch einen zweiten Sinn haben. Dieser kann darin bestehen, draufhauen zu können, wenn man es einmal braucht. Wir haben einen Stock, warum machen wir nichts daraus?“
Einige Stockkampfmethoden wie Fechten, irischer, italienischer und asiatischer Stockkampf habe er ausprobieren müssen, um diese Frage zu beantworten und um eine Disziplin zu finden, die sportliche Betätigung um Selbstverteidigungselemente mit Regenschirmen und Gehstöcken erweitert. Anfang der 2000er stieß Fitzner dann auf Cane Fu. Der Name dieser Stockkampfvariante setzt sich zusammen aus einem Namens-Teil der chinesischen Kampftechnik Kung Fu und dem englischen Wort für Gehstock, „Cane“. Die Ursprungsversion des Cane Fu aus den USA bedient die sportliche Rubrik der Seniorengymnastik, indem die Teilnehmenden gymnastische Übungen mit Stöcken und angetäuschten Schlägen machen. Diese schattenboxenartige Auslegung ging Fitzner in die richtige Richtung, war aber noch nicht praktisch genug. „Wir gehen das härter an, denn ich habe einen Selbstverteidigungsfokus reingebracht.“
Und tatsächlich: Cane Fu in der Interpretation, die Fitzner lehrt, ist neu. Ausgehend von den Maßgaben der Seniorengymnastik und seinem in anderen Stockkampfdisziplinen erworbenen Können, entwickelte Fitzner seine eigene Cane Fu-Version: Körperlich nicht zu anstrengend, aber mit klarem Selbstverteidigungsfokus.
„Ich habe ein Programm ausgearbeitet, bei dem man nicht wie bei anderen Kampfkünsten erst mal fünf Jahre lang fallen und abrollen üben muss – das geht nur auf die Osteoporose und Arthrose meiner Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Mit Cane Fu biete ich Kurse an, bei denen Seniorinnen und Senioren bei null anfangen können.“


Schläge, Stöße und Stiche
Seine ersten Cane Fu-Kurse gab Jan Fitzner 2013. Zuvor hatte er sich, nach langer Suche nach einem Lehrer, in der Disziplin ausbilden lassen. In Bamberg, wo er seit einem Jahr lebt, gab er bereits Kurse in der Sozialstiftung und der VHS. Ab März geht es an letzterer Stelle mit neuen Kursen weiter.
Selbstverteidigung fängt für Fitzner aber nicht mit dem Einsatz der Faust oder eines Stocks an, sondern beginnt zunächst mit allgemeinen Vorsichtsmaßnahmen, wie Selbstbewusstsein und ein selbstsicheres Auftreten zu entwickeln. Erst zuletzt kommen Überlegungen zur körperlichen Verteidigung hinzu, was beim Cane-Fu Abwehr und Eigenschutz durch den Einsatz eines Schirmes oder Gehstockes bedeutet.
Cane Fu können all diejenigen betreiben, die Gehstock oder Regenschirm noch weit genug nach oben heben können, um zum Schlag auszuholen. Die älteste Teilnehmerin in einem der Kurse Jan Fitzners war sogar 96 Jahre alt. Eine größere Ausdauer ist nicht erforderlich, da einzelne Trainings-Aktionen kurz gehalten sind.
„Wer allerdings selbst zu kurzzeitigem Stehen und Gehen auf seinen Stock angewiesen ist, wird zwar vom allgemeinen Sprechen über Gefahrensituationen und Vorsichtsmaßnahmen und einigen stock- oder schirmfreien Selbstverteidigungstechniken profitieren, die gesamte Bandbreite des Cane-Fu wird er allerdings nicht nutzen können. Was aber für alle gilt: Mit einem Mal ist es nicht getan. Wie so vieles muss auch Cane-Fu geübt und trainiert werden, damit es einem dann, wenn es darauf ankommt, auch automatisch zur Verfügung steht.“
Cane Fu-Unterricht
Zu Beginn der Unterrichts-Übungen führt Fitzner mit einigen Worten in die Geschichte des Cane Fu und seine Variante ein, gibt Informationen zu Abwehrsprays oder Notwehrrecht und klärt über verschiedene Stöcke und deren Holzarten auf. „Buchenholz zum Beispiel bricht leichter als Esche“, sagt er.
Im anschließenden Schritt-Training, geht es darum zu lernen, wie man sicher steht und bei einem Stoß nicht sofort umfällt. Körperwendungen, Drehungen und das Heben und Halten von Schirm und Stock trainieren den ganzen Körper. Dann geht es an die Waffen.
Zur Verfügung stehen beim Cane Fu für seine Schläge, Stöße und Stiche Gehstöcke, Spazierstöcke oder, Jan Fitzners Lieblingswaffe, Regenschirme. Als Waffe könne man natürlich alle davon einsetzen, aber man müsse auch an das Erscheinungsbild denken. „Gehstöcke haben ein bisschen den Ruf, nur für alte Leute zu sein und Gebrechlichkeit zu signalisieren. Früher waren sie aber durchaus auch modisches Accessoire. Darum ist der Regenschirm wegen seiner Funktion bezüglich dieses Rufs unverdächtiger. Ich selbst gehe allerdings gern mit einem Ebenholzstock aus.“
Könnte zur Selbstverteidigung im Cane Fu auch ein Rollator dienen? „Nein, die kriegt man nicht über den Kopf zum Ausholen. Allenfalls zum gegen das Schienbein Fahren oder zum Schubsen lässt er sich einsetzen.“
Im Training schlagen die Teilnehmerinnen und ‑nehmer der Reihe nach krachend auf ein Schlagpolster ein. Wichtig beim beispielsweise Schlag mit dem Stock von oben ist es, nicht aus dem Ellenbogengelenk auszuholen. Derart bekommt man nicht genug Hebel und Schwung in die Bewegung. Von oben über dem Kopf, also aus dem Schultergelenk, weist Jan Fitzner seine Schützlinge an, die Schlagbewegung beginnen zu lassen. In weiteren Trainingsabschnitten geht es um Stöße und Stiche. Auch dafür eigne sich der spitze Regenschirm besonders.
Mit einem satten Schlag mit dem Gehstock könne man sich durchaus Respekt verschaffen, denn „wenn man es richtig macht, kann man beim Ausholen mit dem Stock drei Bewegungen überlagern: den Schwung aus dem Arm, den aus dem Handgelenk und den einer zusätzlichen Körperdrehung aus den Schultern. Der Stich ist aber die wichtigste Position, weil er nur schwer abzuwehren ist“, sagt Fitzner.
Verletzungen gab es allerdings noch keine in Fitzners Cane Fu-Kursen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer tragen keine Kämpfe gegeneinander aus, sondern üben miteinander. Wenn jemand einen Gegner brauche, sei es dieses Schlagpolster.
„Aber Cane Fu ist keine Spielerei“, sagt Fitzner, „Vorkenntnisse sind zwar nicht nötig, aber die Leute können schon etwas zur Selbstverteidigung lernen.“
Einsetzen musste noch niemand, was sie oder er bei Jan Fitzner gelernt hat. Aber Rückmeldungen nach den Cane Fu-Kursen deuten darauf hin, dass das Selbstvertrauen, sich zur Not zur Wehr setzen zu können, in den Teilnehmerinnen und Teilnehmern gewachsen und die oben erwähnte Angst, das Haus zu verlassen, entsprechend gesunken ist. „Selbst erst nach ein paar Übungseinheiten sagen Leute manchmal zu mir“, sagt Jan Fitzner, „jetzt weiß ich, was ich tun kann, um mich zu verteidigen.“
Das könnte Sie auch interessieren...
Selbstverteidigung mit Handicap
Trainerin Karin Thiel
Karin Thiel gibt Unterricht in Selbstverteidigung. Das tut sie gleichermaßen für Menschen mit wie auch für Menschen ohne Behinderung. Sie selbst leidet an Multipler Sklerose und sitzt im Rollstuhl. In diesem Zustand Trainerin zu sein, ist kein leichtes, aber ein mutiges Unterfangen. Es gibt ihr und anderen Kraft und schenkt Lebensfreude.
Schon immer wollte Karin Thiel eine Kampfsportart lernen, aber sie hat sich nie getraut. Sie fühlte sich körperlich nicht stark genug. Erst das Ausbrechen ihrer Krankheit hat sie dazu gebracht, ihrem Wunsch nachzugehen. Dabei gab es keinen unmittelbaren Anlass, wie etwa einen Angriff, dem sie ausgesetzt gewesen wäre. Vielleicht aber spürte die den Impuls, dass man plötzlich mehr an sich, an seine Wünsche und Träume denkt, dass man aus einem Schattendasein tritt und Mut fasst, sich zu verwirklichen.
Die Chance nutzen
Mit 28 Jahren merkte Karin Thiel, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Immer wieder stolperte und stürzte sie. Die Diagnose: Multiple Sklerose. Trotz allem blieb sie optimistisch und auch kämpferisch. Sie gründete eine Familie, zog ihren Sohn auf und stand bis zur Erwerbsunfähigkeit im Arbeitsleben. Begonnen hat ihre Karriere in der Selbstverteidigung 2005, als Karin Thiel auf einer Mutter-Kind-Kur weilte. Hier gab eine Therapeutin einen Antigewalttrainings-Kurs. Die junge Mutter nutzte die Chance, nahm teil und fand Gefallen. Der Grundstein war gelegt.
Zwei Jahre später nahm sie an weiteren Kursen in Ulm, Kitzingen und Bamberg teil. So baute sie ihr Wissen und Können immer weiter aus. Schließlich legte sie als erste Frau und als erste Rollstuhlfahrerin in ganz Bayern im Behindertensport die Prüfung zur Fachübungsleiterin ab. Seither agiert sie ehrenamtlich selbst als Kursleiterin – und das nicht nur in Bamberg und Umgebung, sondern auch beispielsweise in Rosenheim, Starnberg, München oder Nürnberg. Sie trainiert Menschen mit und ohne Handicap, geht in Kindertagesstätten oder in karitative Einrichtungen.
Sportliche und verbale Elemente
Karin Thiels Oberkörper funktioniert gut, die Beine allerdings nicht mehr. Wie vermittelt sie in dieser etwas schwierigen Verfassung die Verteidigungstechniken? „Manches kann ich zeigen, andere Dinge erkläre ich theoretisch. Außerdem arbeite ich mit Hilfsmitteln, wie Schlagstöcken. Auch den Rollstuhl kann man, mit der richtigen Handhabe, als Verteidigungsinstrument einsetzen. Und verbal trainieren wir auch“, sagt Karin Thiel. Ein Teil der Techniken entspringen dem Kae-In-Sog-In – was aus dem Koreanischen übersetzt „Vielfalt“ heißt. Diese speziell für Menschen mit Behinderung entwickelte Selbstverteidigung mischt Elemente verschiedenster Kampfkünste – beispielsweise Karate, Judo, Jiu Jitsu oder Taekwondo – und passt sie den Fähigkeiten der einzelnen Teilnehmer an.
Meist macht Karin Thiel Paarübungen, bei Rollstuhlfahrern ist der Partner häufig die Begleitperson. So aufgestellt führt sie die Sportwilligen an Bewegungs-Übungen heran. Erfahrungsgemäß sind die Teilnehmer zunächst einmal zögerlich. Karin Thiel schafft es aber schnell, sie aus der Reserve zu locken. Wie? Die Trainerin lacht: „Wenn die Runde nicht so richtig in Schwung kommt, sage ich immer: Denkt an jemanden, den ihr überhaupt nicht mögt. So einen gibt es immer!“ Und schon tauen die Teilnehmer auf und werden mutiger. Aber einen Aspekt stellt sie auch von vornherein klar: „Wir möchten nicht diejenigen sein, die aggressiv sind und anfangen zu stänkern. Nur dann, wenn es nötig ist, wehren wir uns. Und zwar richtig.“
Das ist nur ein Teil ihrer Lehrmethode. Weil Karin Thiel nicht nur eine dynamische und selbstbewusste, sondern auch eine einfallsreiche und kreative Frau ist, hat sie viele Übungseinheiten selbst erfunden. So bindet sie beispielsweise verbale Einheiten in ihre Kurse ein. Laut zu werden, deutlich seine Haltung auszudrücken und gezielt zu diskutieren sind wichtige sprachliche Elemente.
Verteidigung macht Eindruck
Karin Thiel macht vielen Menschen Mut. Sie schöpft aus ihren eigenen Reserven und gibt das, was sie selbst im Laufe der Jahre aufgebaut hat, ab: physische und psychische Kraft. Wichtig ist dabei erst einmal – egal ob behindert oder nicht – eine aufrechte Körperhaltung und eine energetische Körperspannung aufzubauen. Wer kraftvoll, gestreckt und gerade geht, symbolisiert seinem Gegenüber, dass er Selbstbewusstsein und ‑vertrauen in sich hat. Diese Grundeinstellung verdeutlicht innere Stärke und ist schon einmal die halbe Miete. Dabei vermittelt Karin Thiel, dass es immer einen Weg für eine Lösung gibt. „Das geht nicht, das bekomme ich nicht hin!“ gibt es bei ihr nicht. Gemeinsam mit ihren Teilnehmern findet sie einen Weg.
Beleidigungen und tätliche Angriffe gehören nicht nur für behinderte Menschen zu Gegebenheiten, die psychische Spuren hinterlassen. Um diese nicht dauerhaft mit sich herumtragen zu müssen, ist es wichtig, Signale frühzeitig zu erkennen und ihnen etwas entgegenzusetzen: sich wehren. Vielen Kursteilnehmern hat Karin Thiel so den Weg zu einem selbstbestimmten Leben geebnet.
Das zeigt auch das schöne Beispiel einer Rollstuhlfahrerin, die traurig und eingeschüchtert zum Kurs kam. Ihr Mann, auch gehbehindert, und sie erfuhren immer Beleidigungen durch den Nachbarn. Der betrat unerlaubt das Grundstück des vermeintlich hilflosen Ehepaares, beschimpfte beide Partner und schubste sie sogar.
Karin Thiel arbeitete mit der Frau an dem Problem. Sie gab ihr Möglichkeiten an die Hand, wie sie dagegen ankommt. Selbstbewusst sein ist ein Schlüsselwort, dann dem Störenfried verbal den Wind aus den Segeln nehmen. „Da darf man schon einmal laut und grob werden“, sagt Karin Thiel. „Es gibt viele Möglichkeiten, auch relativ einfache und ein bisschen witzige Methoden: zum Beispiel den Gartenschlauch anstellen und den ungebetenen Gast per Wasserstrahl vertreiben.“ Im Endeffekt kann sich neben all diesen Methoden ebenso eine rechtliche Beratung vorteilhaft auswirken. Auch in dieser Richtung wird Karin Thiel, in Kooperation mit einem Rechtsanwalt, tätig.
Die Rollstuhlfahrerin hat es jedenfalls geschafft, sich gegen den ungeliebten Nachbarn zu behaupten. Karin Thiel hat sie eine Woche nach Kursende angerufen und nachgefragt, ob das Problem gelöst sei. „Der?“, hieß es am anderen Ende der Telefonleitung, „dem habe ich deutlich meine Meinung gesagt. Dabei saß ich kerzengerade im Rollstuhl und mein Mann stand neben mir. Wir haben ihn fest angesehen und gesagt, dass wir uns sein Verhalten nicht mehr gefallen lassen. Mein Mann hat dann noch recht bestimmt mit seiner Gehhilfe in seine Richtung gewiesen. Da ist er abgedampft und wurde nicht mehr gesehen.“
Warum Selbstverteidigung?
Wenn man sich verteidigen kann – und das kann man auch als behinderter Mensch sehr gut – ist man fähig, dem Angreifer etwas entgegenzusetzen. „Die Menschen kommen aus ganz unterschiedlichen Gründen zu mir“, sagt Karin Thiel. „Manche haben Angst, alleine zum Beispiel nachts unterwegs zu sein, andere haben schlechte Erfahrungen gemacht und sind beleidigt worden. Das muss man sich nicht bieten lassen.“ Lebhaft und humorvoll vermittelt die 54-Jährige ihr Wissen. Ihr Temperament überträgt sich auf die Runde. Was sie ganz besonders authentisch macht, ist, dass sie selbst ein Handicap hat. Dabei demonstriert Karin Thiel, dass man gut damit leben kann.
Insbesondere Menschen mit Handicap sind in verschiedenen Lebenslagen mehr gefordert als Menschen ohne. Allein schon der Alltag ist für sie deutlich schwieriger zu bewältigen. Oft kommt noch eine fehlende Wertschätzung, Respektlosigkeit und Anerkennung seitens der Mitmenschen dazu. „Es gibt aber auch das Gegenteil: übertriebene Anteilnahme“, weiß Karin Thiel aus eigener Erfahrung. Mitleid und das Abnehmen aller anfallenden Handgriffe sind ebenfalls keine gute Reaktion, Behinderten zu begegnen. Gerade aber für nicht-wertschätzende Attacken sind Trainings, wie die Selbstverteidigungskurse von Karin Thiel, eine gezielte Stärkung der Teilnehmer, auf solche Reaktionen zu reagieren. Diese sollen lernen, dass sie genauso wertig wie andere Menschen sind, dass sie natürlich Stärken und Schwächen haben und einfach „ganz normal“ sind.
Mit Spaß und Action trotz Beeinträchtigungen zu trainieren und dabei die Selbstkontrolle zu verbessern sind Ziele, die am Ende jeder Kurseinheit stehen. Egal ob mit oder ohne Handicap, ein weiteres Ziel besteht darin, Übergriffe einzuschätzen, die richtige Abwehrmethode herauszufiltern und Anfeindungen gestärkt entgegenzutreten. Um das optimal zu schaffen, muss man erst einmal seine Grenzen kennen. Bei behinderten Menschen sind diese meist offensichtlich. So kann jemand, der wie Karin Thiel im Rollstuhl sitzt, sich nicht durch Tritte verteidigen. Hier setzt die Trainerin individuell an und überlegt sich Methoden, die passgenau auf den jeweiligen Teilnehmer zugeschnitten sind. Theoretische Lerninhalte wechselt sie mit praktischen Übungen ab. Das Niveau steigt vom Anfängerkurs zum Aufbaukurs, indem sich die Herausforderungen verändern. Wichtig ist Karin Thiel auch, dass über Sorgen, Ängste und negative Erfahrungen gesprochen wird. „Vertrauen zu sich und den anderen zu entwickeln, sind Grundvoraussetzungen, um in der Offensive stark zu sein.“
Behinderung als Chance
Karin Thiel sieht ihre Behinderung als Chance. Allein ihr bunter Rollstuhl drückt schon Lebensbejahung aus. „Dadurch, dass ich mir bewusst bin, dass ich krank bin, aber für meinen Körper und mich etwas tue, steuere ich der Krankheit entgegen. Ich werde gelenkiger, werde nicht faul und auch geistig – immer im Austausch mit den vielen Menschen, die in meine Kurse kommen – bleibe ich rege. Wach in jeder Hinsicht, sei es geistig oder körperlich, zu sein, zeigt mir, dass ich mich selbst schätze. Und wenn ich mich achte, achtet mich auch meine Umwelt. Selbstverteidigung bedeutet dabei für mich Freude, Freiheit und Spaß.“
So viel Zeit Karin Thiel auch in die Antigewalttrainings steckt, ihre einzige Facette ist dieser Sport nicht. So besuchte sie in der Vergangenheit Krankenhäuser als Klinikclown. Bis heute formt sie Luftballonfiguren, um Kinder in Kindertagesstätten oder Kranke in Kliniken zu erfreuen. Außerdem berät sie Fachpersonal, pflegende Angehörige und Betroffene hinsichtlich der Hilfsmittelwahl, zum Beispiel welche genau man benötigt und welche Art die richtigen sind. Sie gibt Rollstuhlkurse für Begleitpersonen, denn es ist gar nicht so einfach, sich mit Rollstuhl samt Insassen durch die Stadt zu bewegen. Wie überwindet man Gehsteigkanten, wie kommt man kraftsparend einen Berg hinauf oder geht es, Rolltreppe zu fahren? Das sind nur einige Fragen von vielen.
Immer verbindet Karin Thiel diese Dinge mit Witz, guter Laune und Ideenreichtum. So hat sie schon Rollstuhl-Spiele und Rollstuhl-Züge in der Bamberger Innenstadt initiiert. Sie demonstriert damit, wie normal und mitunter auch lebensbejahend ein Leben mit Behinderung sein kann. Und sie zeigt, wie man die Angst vor unvorhergesehenen Situationen verlieren kann. „Auch wir Rollstuhlfahrer müssen lernen, dass Hilfe nicht von selbst kommt. So müssen wir den Mund aufmachen und einfach fragen, ob uns jemand hilft. Wir denken, das müsste jeder sehen. Aber dem ist nicht so. Das Kind beim Namen genannt helfen viele Passanten gerne, wenn sie direkt auf das Problem angesprochen werden.“
Natürlich ist ein Leben im Rollstuhl kein Zuckerschlecken, aber es ist machbar. Es kann ungesehene Möglichkeiten eröffnen: Sei es einen Selbstverteidigungskurs zu besuchen, einfach nur Mut zu schöpfen, beweglich zu bleiben oder Gemeinschaft zu erleben. Karin Thiel macht’s vor.