Leicht haben es Pandemie und staatliches Desinteresse der Kulturszene nicht gemacht, aber die oberfränkische Landesbühne des Fränkischen Theatersommers – kommendes Wochenende noch
... weiter
Fränkischer Theatersommer
„Sind wir wichtig? – Wir sind es“
Leicht haben es Pandemie und staatliches Desinteresse der Kulturszene nicht gemacht, aber die oberfränkische Landesbühne des Fränkischen Theatersommers – kommendes Wochenende noch mit zwei Stücken in der KUFA in Bamberg zu Gast – hat sich im zurückliegenden Jahr nicht unterkriegen lassen. Mit Jan Burdinski, Darsteller und Intendant des Fränkischen Theatersommers, haben wir über Systemrelevanz, Heiterkeit in unheiteren Zeiten und die Rückkehr zur Normalität gesprochen.
Am 30. Mai haben Sie in Bayreuth die Saison mit dem Stück „Emmas Glück“ eröffnet. Wie sahen die Rückmeldungen aus?
Jan Burdinski: Wir waren überrascht. Obwohl der Termin nur sehr kurzfristig vorher bekannt gegeben werden konnte, waren 80 Zuschauer da. Die Zuschauer reagierten auf die großartige schauspielerische Leistung der Darstellerin mit viel Applaus und Begeisterung. Wunderbar!
Hätte es, wenn die Inzidenzwerte die Aufführung nicht zugelassen hätten, eine Alternative gegeben?
Jan Burdinski: Wir hätten die Aufführung auf einen späteren Termin verlegen müssen, wie wir es zuvor schon mit der Premiere, die eigentlich in Altenkunstadt Mitte Mai vorgesehen war, praktizieren mussten.
Für die Premiere haben Sie das Solostück „Emmas Glück“, eine Komödie über die verschuldete Bäuerin Emma, ausgewählt. Warum?
Jan Burdinski: Das war der Wunsch der Darstellerin der Emma – Rebekka Herl. Immer wenn eine neue schauspielerische Kraft Teil des Ensembles des Fränkischen Theatersommers werden möchte, sollte sie ein Solo eigener Wahl spielen. Das hat zwei Vorteile. Erstens kann ich so die Persönlichkeit der Schauspielerin oder des Schauspielers intensiver kennenlernen. Und zweitens stärkt die Herausforderung eines Solo-Stücks die künstlerische Persönlichkeit. Das ist eine Schwerstaufgabe, die Frau Herl glänzend bestanden hat.
Steckt in der Tatsache, die Schauspielerin zum ersten Mal mit so einer großen Herausforderung, anstatt in einer kleineren wie einer Nebenrolle, vor Publikum spielen zu lassen, nicht ein großes Risiko?
Jan Burdinski: Ja, das ist ein Risiko. Aber man hat ja schon während der Proben Zeit, ein Stück gründlich zu erarbeiten und vorzubereiten. Natürlich haben alle Schauspielerinnen und Schauspieler vor so einer Premiere Selbstzweifel, aber die wische ich aus den Köpfen. Und es hat funktioniert – das Publikum war sprachlos.

Wie kam die Kooperation mit der KUFA, der Kultureinrichtung der Lebenshilfe Bamberg, zustande?
Jan Burdinski: Wer wen angesprochen hat, weiß ich nicht mehr. Auf jeden Fall finden wir die Inklusionsausrichtung der KUFA großartig. Die Lebenshilfe konnte dort einen inclusiven Kunst- und Theaterbetrieb einrichten, der seinesgleichen sucht. Bei unseren Gastspielen werden wir sogar beim Catering von der KUFA unterstützt. Wir verfolgen im theaterpädagogischen Angebot des Fränkischen Theatersommer selber einen inklusiven Ansatz.
Der Fränkische Theatersommer hat, wie fast alle kulturellen Institutionen, ein Jahr voller Entbehrungen hinter sich. Hat sich diese Zeit auf seine Denkweise ausgewirkt? Sind Sie vorsichtiger geworden?
Jan Burdinski: Wir haben uns den Schneid nicht abkaufen lassen. Zwischen erstem und zweitem Lockdown hatten wir über 80 Aufführungen, obwohl das nur die Hälfte des ursprünglich geplanten Programmes war. Außerdem mussten wir besonders teure Produktionen, wie „Der Sommernachtstraum“ oder „Der fliehende Hollaender“ in die jetzige Spielzeit verschieben. Das Ensemble bekam dadurch aber die beruhigende Gewissheit, dass wir uns nicht unterkriegen lassen. Wir haben unsere Zeit nicht damit verbracht, permanent angsterfüllt an Corona zu denken. Wir hatten immer die nächste Spielzeit im Blick.
Kultur, das ist im zurückliegenden Jahr deutlich geworden, scheint doch nicht den systemrelevanten Stand zu genießen, der ihr zugeschrieben wird. Inwieweit gibt das kulturellen Institutionen zu denken? Stellen sich Ernüchterung und Zweifel über die Berufswahl ein?
Jan Burdinski: Fast das Gegenteil. Unser Beruf, Theater in einem reichen kulturellen Umfeld machen zu können, ist schon ein Luxus und Privileg. Zweifel an der Relevanz gab es deshalb eher vor Corona. Sind wir wirklich so wichtig? Die Pandemie hat uns gezeigt: Ja, wir sind wichtig! Und die Reaktionen des Publikums haben uns gezeigt, wie sehr die Leute Kultur brauchen – wie sehr sie Kultur verbinden mit Zusammenkommen, Atmenkönnen und Kommunikation. Auch wenn diese Tatsache unser Selbstvertrauen gestärkt hat, keine Sorge: Wir werden deshalb nicht überheblich.
Auf dem Spielplan der Saison 2021//2022 stehen Komödien, Musicals, Kabarett und Chansons. Werden Sie sich inszenatorisch darin auch der Pandemie annehmen?
Jan Burdinski: Vor ein paar Monaten hätte ich das noch verneint und gesagt, dass Corona uns dermaßen im Griff hat, dass ich nicht auch noch ein Stück darüber inszenieren möchte. Aber jetzt muss ich sagen, dass es in der einen oder anderen Inszenierung durchaus zu kleinen Exkursen zur Pandemie kommen wird – inklusive einer Tanzeinlage mit FFP‑2 Masken.
Auch nach den Schwierigkeiten und Unsicherheiten des letzten Jahres bedienen Sie eher die leichte Muse. Können Sie das immer noch in voller Überzeugung tun oder ist in Ihnen der Wunsch erwachsen, in den Inszenierungen oder in der Stückeauswahl der Härte der Realität etwas mehr Rechnung zu tragen?
Jan Burdinski: Heiterkeit wird bei uns schon sehr groß geschrieben. Aber so manches Stück bewegt sich durchaus auf dem schmalen Grat zwischen Tragödie und Komödie. Was die Verwertung der Realität angeht, kommt es immer auf die Perspektive an. Selbst die härteste Realität kann aus einem heiteren Blickwinkel betrachtet werden. Ich liebe es, auch Schreckliches eher aus einem solchen Blickwinkel anzugehen. Ich glaube, man begibt sich zu stark ins Missionarische, wenn man zu sehr das Schreckliche anprangern will. Da wird man ganz schnell zum Besserwisser. Ich möchte kein Besserweisser sein, sondern es dem Publikum überlassen, hinter dem Heiteren das Tragische zu entdecken und zu erkennen. Das ist nicht selbstverständlich. Unter einer politischen Diktatur – ich denke aktuell an die Entwicklungen in Belarus – kann diese künstlerische Freiheit, die wir hier genießen können, sehr schnell verloren gehen.
Tragisches heiter zu präsentieren, um es so vielleicht erträglicher zu machen, ist ein satirischer Ansatz. Ist der Fränkische Theatersommer eigentlich ein satirisches Projekt?
Jan Burdinski: Auch, aber nicht in Gänze. Die Antriebsfeder von Miguel Cervantes, als er „Don Quijote“ schrieb, ein Stück des aktuellen Spielplans, war Satire. Er wollte sich lustig machen über die schlechte Romanliteratur seiner Zeit des 16. Jahrhunderts. Ein solches Werk, das im Geist der Satire entstand, auf die Bühne zu bringen, lockt mich. Die Satire hat den Vorzug, die Widersprüchlichkeit der Welt lachend darzustellen. Solcherlei Perspektivwechsel hält unseren Geist fit. Diese Art von Optimismus möchte ich durchaus von der Bühne senden.
Weitere Informationen unter
Das könnte Sie auch interessieren...
Systemrelevanz der Kultur
„Für viele Freiberufliche ist die Corona-Pandemie zur Existenzfrage geworden“
Martina Hümmer ist Sopranistin mit klassischem Repertoire und Gesangspädagogin an der Kreismusikschule Bamberg. Wie so viele andere Kulturschaffende auch, hadert sie mit den erneuten harten Beschränkungen, die dem Kulturbetrieb im Zuge des zweiten Lockdowns auferlegt wurden. Wir haben mit ihr über die Systemrelevanz der Kultur, den Zustand der Bamberger kulturellen Szene und die jüngsten kulturpolitischen Entscheidungen des Rathauses gesprochen.
Frau Hümmer, warum ist Kultur systemrelevant?
Martina Hümmer: Wir brauchen Kultur. Sie ist für Menschen unverzichtbar, begleitet uns von Kindesbeinen an, prägt, formt, erfreut, tröstet und bildet uns. Sie macht unser Menschsein aus.
Richard von Weizsäcker sagte: „Kultur ist kein Luxus, den wir uns entweder leisten oder nach Belieben auch streichen können, sondern der geistige Boden, der unsere innere Überlebensfähigkeit sichert.“ Dem stimme ich absolut zu, denn Kultur ist existentieller Bestandteil unserer Gesellschaft, weil sie von Menschen für Menschen geschaffen wird. Wir wissen in der aktuellen Zeit der Corona-Pandemie nicht, wann wir wieder arbeiten dürfen, aber ich bewahre mir dennoch ein positives Denken, überzeugt davon, dass Musik und Kunst wesentliche Rettungsanker sind.

Die Beschlüsse des aktuellen Lockdowns sehen unter anderem vor, freien Kulturschaffenden 75 Prozent ihres Einkommens aus dem November 2019 oder 75 Prozent des durchschnittlichen Einkommens von 2019 zu erstatten. Was halten Sie davon?
Martina Hümmer: Das wäre ein guter Anfang, um vielen freiberuflichen Künstler*innen vor Existenznot zu helfen.
Welche Botschaft sendet die erneute Stilllegung des Kulturbetriebs trotz all der Bemühungen der zurückliegenden Monate, wie dem Ausarbeiten von Hygienekonzepten, um zumindest einen reduzierten Betrieb aufrechterhalten zu können, und den relativ geringen Infektionszahlen im kulturellen Bereich, an die Kultur aus?
Martina Hümmer: Es ist nun einmal so, dass in Kulturveranstaltungen wie Konzerten, viele Menschen zusammen kommen. Trotz all der guten Konzepte, basierend auf den seit langer Zeit kontinuierlich propagierten Maßnahmen explodieren die Infektionszahlen, füllen sich die Intensivbetten, kapitulieren die Gesundheitsämter und erschweren die derzeit einzige Möglichkeit der Pandemiebekämpfung, der Kontaktnachverfolgung, oder machen diese schlicht zunehmend unmöglich. Das derzeit kaum mehr kontrollierbare Infektionsgeschehen verwehrt eine klare Separierung eindeutig zuzuweisender Verbreitungsorte.
Zudem dürfen in diesem Kontext auch die Anfahrts‑, Garderoben- und Pausenmomente nicht außer Acht gelassen werden, wo die gutgemeinten Konzeptkriterien schnell mal zumindest teilweise in Vergessenheit geraten, um sich dann nach der Pause wieder unter Beachtung von Abstand und dergleichen in den Konzertsälen einzufinden. Leider habe ich selbst vielerorts solche Beobachtungen in Opern, Konzertsälen und Kirchen gemacht. Die Politik tut hoffentlich das Richtige. Ich staune, wie viele Leute sich Urteile anmaßen, obwohl sie die Zusammenhänge nicht kennen oder je nach Kontext einfach mal ausblenden.
Die Haushaltsplanungen der Stadt Bamberg sehen eine Kürzung der Finanzmittel für die freie Kulturszene um 25 Prozent vor. Hätten Sie, auch im Angesicht von 40 Millionen Euro städtischer Schulden und Auflagen der Regierung von Oberfranken zum Schuldenabbau, Verständnis für diese Entscheidung?
Martina Hümmer: Ich finde, gerade für Bamberg als Kulturstadt sollten Kunst und Musik wesentlich sein. Jedes Theater oder Konzertereignis ist ein kultureller Raum des Erlebens, der Orientierung und Erkennens der Welt aus neuen Perspektiven, den wir heute mehr denn sonst brauchen. Die Weitergabe des Könnens und Wissen dieses immateriellen Kulturerbes gestaltet unsere Zukunft mit. Künstler*innen sind lebendige Kulturakteurinnen und ‑akteure in ihrer Region und tragen damit nicht nur wesentlich zur lokalen und regionalen Identitätsbildung bei, sondern sind eine Kraftquelle der Integration. Ich glaube nicht, dass man mit Kürzungen im Kulturbereich einen Haushalt sanieren kann. Kultur ist nicht nur ein Standortfaktor, sondern Ausdruck von Identität. Daran werden wir gemessen. Unsere einzigartige Kulturlandschaft eventuellen Einsparungen zu opfern, wäre ein zweiter, unbedingt zu vermeidender Sieg des Virus.
Können Sie einschätzen, in welchem wirtschaftlichen Zustand sich die Bamberger kulturelle Szene befindet? Und herrscht noch Optimismus, irgendwann wieder wie vor der Pandemie arbeiten und wirtschaften zu können, oder hat sich bereits Resignation eingestellt?
Martina Hümmer: Für viele freiberufliche Künstler*innen und freien Kultureinrichtungen sind die Folgen der Corona-Pandemie zur Existenzfrage geworden. Auch für Laienmusiker*innen und Ensembles wird die Krise eine große Herausforderung sein. Kultur kann Leben verändern. Ich bin voller Hoffnung und es besteht seit März bei mir uneingeschränkter Optimismus, gestärkt durch diese Krise zu kommen und wieder wie zuvor arbeiten zu können.
Eine positive Lebenseinstellung ist für mich als Künstlerin und auch als Pädagogin sehr wichtig, denn, um den heiligen Augustinus zu zitieren, in mir muss brennen, was ich in anderen entzünden möchte. Dieses Feuer dürfen wir nicht ausgehen lassen, sondern müssen überlegen, wie wir Menschen, Lieder und Orte miteinander verbinden. Ich bin sehr froh, dass ich an der Kreismusikschule Bamberg unterrichte und fühle mich von der Leitung sehr gut durch diese Krise geführt. Mit großem Engagement, enormen Kraftaufwand aller ist es uns bis jetzt gelungen, gut durch diese Zeit zu kommen und hat uns gezeigt, dass wir als Musiker ein großes Potential an kreativen Wegen suchen, um unseren wunderbaren Beruf ausüben zu können und unsere Schüler*innen für Musik zu begeistern. Dieses Vertrauen wünsche ich allen der Kulturbranche Bamberg.
Wie glauben Sie, wird die Szene aus dem Lockdown hervorgehen?
Martina Hümmer: Viele meiner freischaffenden Kolleg*innen stehen vor existentiellen Schwierigkeiten. Ich bin mir aber sicher, dass Kunst und Kultur immer überleben werden. Wie das für den einzelnen Künstler*innen aussieht, ist schwer zu beantworten. Man muss eben sehr kreative Wege finden und in solchen Zeiten auch flexibel sein. Für große Opernhäuser oder Symphonieorchester wird es sicher leichter sein, als für freiberufliche Musiker*innen. Krisen können auch immer Anlass zu Entwicklung und Chance auf Wachstum sein. Die Pandemie fordert von uns, neue und kreative Wege und Lösungen zu suchen. Kultur ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Lebens. Konzerte und kulturelle Veranstaltungen werden auch weiterhin die Menschen erfreuen. Vielleicht wird Live-Musik dann noch mehr geschätzt als vorher.
Mit welchen Gefühlen haben Sie die Nachricht eines zweiten Lockdowns zur Kenntnis genommen?
Martina Hümmer: Als Künstlerin reflektiere ich diese Zeit und die Auswirkung auf unser aller Leben sehr eingehend. Kein Tag vergeht, an dem es nicht irgendwo eine Menschenkette oder einen Aufruf zur Rettung der Kultur gibt. Manche üben differenzierte Kritik an den Maßnahmen der Bundes- und Staatsregierung oder sehen sich zu Unrecht in ihrer Berufsausübung beschränkt. Andere sehen die Rolle der Kultur in der Gesellschaft grundsätzlich gefährdet oder wünschen sich gerechtere Verteilung von Geldern. Der zweite Lockdown war zu erwarten und ich hätte ihn angesichts der steigenden Zahlen schon früher vermutet. Was für den Einen „Lockdown light“ ist, bedeutet für uns Musiker*innen immer noch Berufsverbot. Das Kulturleben befindet sich wieder in einer Zwangspause und steht still. Ein kleines Virus zeigt uns, dass wir die Welt nicht so unter Kontrolle haben, wie wir das gerne hätten oder oft auch von uns erwartet wird.
Ich verpflichte mich als Künstlerin aber auch zu einer gewissen Verantwortung und Vorbildfunktion. Wir müssen lernen, unser eigenes Verhalten vor uns selbst und unserem Gewissen zu rechtfertigen. Und gerade als Künstler*in sollte man Menschlichkeit und Moral in sich tragen, sonst hat man auf der Bühne nichts zu sagen. Ich begreife Kultur als zutiefst humanistische, den Menschen dienende Verpflichtung, um Ludwig van Beethoven zu zitieren, und ich sehe es gerade jetzt als Pflicht an, das Wohl und die Gesundheit der Menschen in diesem Land als höchste Priorität zu begreifen. Menschen, die jetzt ihre eigenen Interessen und Egoismen zurücksetzen, kollegial und solidarisch gemäß der nötigen Vorgaben unter Beachtung von Vorsicht und Nächstenliebe die Würde eines jeden Menschenleben achten und mit ihrem Verhalten Leben retten, sind für mich die Helden dieser Zeit.
Wie wirkt sich der Lockdown auf Ihre Arbeit als Gesangslehrerin und Künstlerin aus?
Martina Hümmer: Dass ausgerechnet das Singen als älteste, am längsten praktizierte und natürlichste künstlerische Äußerung durch die Coronakrise zur – bisweilen sogar tödlichen – Gefahr wird, ist eine grausame geschichtliche Pointe, an der wir alle im Moment schwer zu tragen haben. Es ist sehr traurig, dass ich meiner Berufung derzeit nicht nachgehen kann und alle meine Konzerte, Opernaufführungen und Liederabende bis auf weiteres abgesagt wurden. Doch jetzt zu protestieren, wo es mit wenigen Ausnahmen absolut allen Menschen in Deutschland sehr schlecht geht, ist das wirklich sinnvoll? Für uns Berufssänger*innen sind die Perspektiven derzeit leider schlecht, denn die Infektionsgefährdung während des Singens durch Aerosole wird von Fachleuten als sehr hoch eingeschätzt.
Als Mitglied im Bundesverband Deutscher Gesangspädagogen bin ich mit vielen Kollegen*innen über aktuelle Studien im Austausch und informiert, wann und wie wir unseren Beruf wieder ausüben können. Als Sängerin ist man es gewöhnt, mit sich und seinem Instrument, dem eigenen Körper, zu arbeiten, aber natürlich fehlt die Bühne, denn als Künstler muss man sich künstlerisch ausdrücken, um sich lebendig zu spüren. Wir alle brauchen die reale Interaktion mit Menschen. Dabei meine ich aber keine Eventkultur, sondern eine Rückkehr zum tiefen, ursprünglichen und elementaren Verständnis von Kunst.
Sie geben derzeit Gesangsunterricht online. In welcher Hinsicht kann dieses Onlineangebot Präsenz-Gesangsunterricht nicht ersetzen?
Martina Hümmer: Ich betreue meine Schüler*innen via Video-Chat, der jedoch den üblichen Präsenzunterricht in keiner Weise ersetzen kann. Es freut mich jedoch trozdem ein wenig Gutes sowie positive Energie an weitergeben zu können. Es war nicht einfach, plötzlich onliner zu unterrichten, und es brauchte Zeit, dafür Wege zu finden, um die Begegnung mit den
Schüler*innen lebendig und eben auf meine Weise sinnstiftend zu gestalten. Ich habe aus dem Online-Unterricht aber durchaus Positives gewonnen. Die Schüler*innen reflektierten ihre eigene innere Einstellung beim Üben, die Schulung der Körperwahrnehmung, allgemeine Hintergründe zum Thema Lernen – diese Inhalte und auch die Tatsache, dass man die Aufgaben machen konnte, wann man wollte und sich dann darüber austauscht, haben definitiv einen Mehrwert für das Singen und das sängerische Selbstbewusstsein.
Trotz der guten Seiten des Online-Unterrichts ist Gesangsunterricht natürlich eine ganzheitliche Sache. Es ist besser, die Schüler*innen live zu spüren. Im Mittelpunkt meiner Arbeit als Künstlerin und Pädagogin steht der singende Mensch, in dem ich ein Höchstmaß an Authentizität und Ausdruck entzünden möchte, was jedoch aufgrund fehlender Einschätzung und Beurteilung von Klang sowie muskulärer Abläufe auf sozialer Distanz nicht so einfach ist, es kostet mehr Kraft. Jedoch können und sollten wir dringend die Möglichkeiten sehen und nicht nur die Grenzen. Dann kann Überraschendes und Bereicherndes geschehen.
Welchen Stellenwert hat Musik in Ihrem Leben?
Martina Hümmer: Als Sängerin ist es mein Beruf, mich mit Dingen zu befassen, die über das hinausgehen, was käuflich ist. Es ist meine Aufgabe, die menschlichen Bedürfnisse aufzudecken, die unter der Oberfläche liegen. Dafür ist Kunst da. Wir Künstler*innen öffnen Räume, die andere Menschen alleine meist gar nicht sehen oder zumindest nicht allein betreten können. Sowohl Konzertbesuchern als auch denjenigen, mit denen wir musikpädagogisch arbeiten, ermöglichen wir, mit deren eigenen inneren Welten in Berührung zu kommen. Wir Musiker*innen haben da einen unglaublich kostbaren Schatz. Wir tragen die Musik im Herzen. Meine Arbeit ist in dieser Hinsicht kein Job, sondern ein Grundbedürfnis, mein Leben.
Ich wünsche mir, die Welt wieder mit Gesang zu beseelen und zu bereichern sowie Menschen Hoffnung, Trost und Liebe durch die Musik zu schenken. Besonders Gesang macht die direkte Verständigung der Menschen und Herzen auf ästhetischer Ebene möglich, unabhängig von Herkunft, Religion oder Hautfarbe, und kann in Konfliktsituationen Brücken bauen, wo die Sprache an ihre Grenzen stößt. So ist Musik nicht nur eine musikalische, sondern auch eine hochsoziale Tätigkeit, identitätsstiftend und gemeinschaftsbildend. Musik ist eine Form des menschlichen Miteinanders und geht in ihrer Wahrhaftigkeit in unsere Herzen – das, was uns Menschen ausmacht, diese unsere gemeinsame Sprache der Menschheit.