Vier Millionen Menschen in Deutschland sind pflegebedürftig, jeder vierte davon wird zuhause von Angehörigen gepflegt. Das hat der Sozialverband VdK in einer Studie festgestellt. Allerdings ist die häusliche Pflegesituation, genau wie diejenige in Pflegeeinrichtungen überfordert: Zu wenig personelle, finanzielle und strukturelle Ressourcen stehen zur Verfügung.
Udja Holschuh ist Bamberger Kreisgeschäftsführerin des VdK Bayern. Eigentlich bietet der Sozialverband in erster Linie Sozialrechtsberatung vor Ort an oder vertritt seine Mitglieder beim Kontakt mit Behörden oder Gerichten. Immer wieder betreibt aber der VdK auch sozialpolitische Kampagnen, um seinen Forderungen Nachdruck zu verschaffen. Die aktuelle Kampagne „Nächstenpflege“ widmet sich Menschen, die Angehörige zuhause pflegen. Wir haben mit Udja Holschuh über „Nächstenpflege“ gesprochen.
Die VdK hat bekanntgegeben, dass 80 Prozent der vier Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland zu Hause von Angehörigen versorgt werden. Pflegen diese Menschen ihre Angehörigen eher aus Überzeugung oder aus Mangel an Alternativen zuhause?
Udja Holschuh: Beides – wobei 80 Prozent schon ein sehr großer Anteil ist. Aber diese Zahlen kann der VdK 2022 zum ersten Mal liefern. Die statistische Grundlage ist eine bundesweite Studie, die wir zusammen mit der Hochschule Osnabrück gemacht haben, auch wenn wir uns im Vorfeld gewundert hatten, dass noch niemand das Thema der häuslichen Pflege so dezidiert angegangen war. Wir hätten für die Studie auch den gesamten Pflegebereich auswählen können, fanden es aber wichtiger, den ambulanten Bereich zu untersuchen, eben weil er so viele Pflegebedürftige und deren Angehörige betrifft.
Warum wird zuhause gepflegt?
Udja Holschuh: An erster Stelle steht zumeist der Wunsch der Betroffenen. Man möchte gerne zuhause bleiben. Aber auch in der häuslichen Pflege stellt sich immer häufiger das Problem der Versorgungssicherheit. Es gibt nicht genug Pflegeplätze in Pflege-Einrichtungen und Personal in der Pflege. Bei der häuslichen Pflege kommt hinzu, dass Unterstützungsangebote, wie Kurzzeitpflegeplätze oder Haushaltshilfen, bundesweit bei weitem nicht in ausreichender Zahl verfügbar sind.
Der Pflegenotstand ist also so dramatisch wie er dargestellt wird?
Udja Holschuh: Ja. Und das weiß man auch schon länger. Wenn die häusliche Versorgung durch Angehörige wegfallen würde, könnten nicht alle Pflegebedürftigen versorgt werden – es fehlen die Heimplätze und auch die ambulante Pflege leidet unter erheblichem Personalmangel. Was zu Personalmangel und unzureichender Finanzierung der ambulanten Pflege noch dazu kommt, auch dazu stellt unsere Studie Daten bereit, ist ein Mangel an Beratung zu Pflegeangeboten. Es macht nämlich einen Unterschied aus, ob Menschen, die selbst pflegebedürftig oder pflegende Angehörige sind, eine Beratung erhalten haben oder nicht. Die Inanspruchnahme von zum Beispiel Kurzzeitpflege oder Tagespflege steigt stark an, wenn man weiß, dass es solche Angebote gibt. Anderseits können aber auch ambulante Dienste die Versorgung oft
nicht mehr sicherstellen. Dann müssen Angehörige einspringen und die Pflege übernehmen. Das überlastet wiederum die Angehörigen.
Wie sieht es auf kommunaler Bamberger Ebene aus?
Udja Holschuh: Auf kommunaler Ebene tut sich in der Region Bamberg was. Im Mai wurde der Pflegestützpunkt Stadt und Landkreis Bamberg eingerichtet, von dem wir uns eine Intensivierung der Beratungsmöglichkeiten erhoffen. Dass es dort genügend Personal gibt, glauben wir aber noch nicht. Was Kurzzeitpflege angeht, ist eine Versorgungssicherheit weder im Stadtgebiet noch im Landkreis Bamberg gewährleistet.
Gibt es entsprechende Entlastungen für die, die zuhause pflegen?
Udja Holschuh: Grundsätzlich sagt der Gesetzgeber und die Pflegeversicherung „Ambulant vor stationär“. Das trifft sich, wie die Studie ergeben hat, mit der Interessenslage der Menschen – man möchte zuhause bleiben. Die Pflegeversicherung finanziert ohnehin nur einen bestimmten Teil der stationären Pflegekosten. Dort wurde 2019 zwar ein wenig nachgearbeitet mit einer kleinen Pflegereform und die Lage etwas verbessert. Was aber nicht passiert ist, ist, worauf wir alle gewartet haben: die große Pflegereform – sowohl ambulant als auch stationär. Worauf ich an dieser Stelle aber auch hinweisen möchte, ist, dass die Unterstützungs-Möglichkeiten für häusliche Pflege bei Weitem nicht ausgeschöpft werden. Denn der Gesetzgeber macht nämlich durchaus Entlastungsangebote, wenn man zuhause pflegt.
Im Koalitionsvertrag der Ampelregierung heißt es, ein „Ziel ist eine moderne sektorenübergreifende Gesundheits- und Pflegepolitik“. Gab es in diese Richtung bereits Fortschritte?
Udja Holschuh: Sektorenübergreifend würde in diesem Fall bedeuten, Pflege und Behindertenhilfe zusammenzuführen. Das ist in der Praxis aber noch nicht erkennbar. Was den VdK angeht wünschen wir uns zudem mehr Unterstützung der ambulanten, häuslichen Pflege. Wir können uns ein Nächstenpflege-Budget vorstellen. Das wäre ein Budget, das Pflegebedürftigen zur Verfügung gestellt wird und das sich leicht abrufen lässt, ohne dass man allzu komplizierte Anträge stellen muss.
Ließen sich alle Probleme in der Pflege mit mehr Geld lösen?
Udja Holschuh: Nicht alle Probleme lassen sich damit lösen, aber mehr Geld ist immer gut! Wo es zum Beispiel auch eine bessere finanzielle Unterstützung geben könnte, wäre eine bessere Rentenversorgung von pflegenden Angehörigen. Denn viele Pflegende sind bereits selbst in Rente. Eine weitere Forderung, die wir in dieser Richtung an die Politik hätten, wäre, die Vereinbarkeit von Pflege, Familie und Beruf zu erleichtern. Denn wer pflegt, kann nicht Vollzeit arbeiten. Bis jetzt sieht die gesetzliche Vorgabe so aus, dass man, um sich die Pflegezeit auf die Rente anrechnen lassen zu können, maximal 30 Stunden arbeiten darf. Die Einkünfte daraus reichen aber oft nicht aus, die Lebenshaltungskosten zu decken. Auch sollte es ein Rückkehrrecht in die Vollzeitbeschäftigung geben.
Gab es einen Auslöser für die aktuelle VdK-Kampagne der „Nächstenpflege“?
Udja Holschuh: Grundlegend war es der Pflegenotstand, der ja schon seit Jahren bekannt ist. Man weiß von ihm und man weiß, dass er schlimmer werden wird. Covid hat die Sache noch verschlimmert, noch mehr Pflegekräfte sind an ihre Grenzen gekommen oder haben gekündigt. Der letztliche Grund, die Kampagne denjenigen, die zuhause pflegen zu widmen, war aber die angesprochene Studie.
Wenn der Pflegenotstand aber bekannt ist, warum haben Sie die Studie erst jetzt gestartet?
Udja Holschuh: Die Regierung Merkel hatte immer wieder erklärt, dass es im Pflege-Bereich grundsätzliche Änderungen geben würde. Das Thema war an vielen Stellen besetzt und wir dachten, dass das auch für die häusliche Pflege, von der wir vor der Studie zugegebenermaßen nicht so viel wussten, funktionieren würde. Wie gesagt haben wir uns sehr gewundert, dass der ambulante Bereich wissenschaftlich noch nicht aufbereitet war. Nun ist mit der Studie aber ein Punkt erreicht, an dem wir nicht nur laut sein können, sondern auch eine fundierte Grundlage für unsere Forderungen haben.
Sie fordern auch mehr Hilfe im Haushalt. Was hat es damit auf sich?
Udja Holschuh: Darunter würde fallen, dass es mehr Beratungsangebote und mehr Personal gibt – also alles, was die Leute, die zuhause Angehörige pflegen, entlastet. Da sind wir in Bamberg zwar schon auf einem guten Weg mit dem erwähnten Pflegestützpunkt. Wo es aber noch ganz große Probleme gibt, neben der mangelhaften ambulanten pflegerischen Versorgung, ist die hauswirtschaftliche Unterstützung. Noch bevor die eigentliche Pflege beginnt, ist das nämlich der Bereich, in dem es zuhause zuerst nicht mehr klappt.
Wer soll das alles bezahlen?
Udja Holschuh: Wir können uns vorstellen, dass es eine steuerfinanzierte Vollversicherung in der Pflege gibt. Die Finanzierung in der Pflegeversicherung wird uns auch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten beschäftigen. Und wir haben unsere Studie, die sich nicht einfach in die Schublade legen lässt – sie hat das Potenzial, etwas voran zu bringen.
Wie schnell müssten Ihre Forderungen nach mehr Hilfe im Haushalt, besserer Vereinbarkeit von Pflege und Beruf und finanzieller Entlastung umgesetzt werden?
Udja Holschuh: Es darf nicht nochmal eine ganze Legislaturperiode oder länger gewartet werden.
Auf der Homepage der „Nächstenpflege“-Kampagne zeigen Sie Fotomontagen eines sehr gealterten Bundeskanzlers und Gesundheitsministers inklusive des Slogans „Sorgen Sie doch jetzt schon für die Bedingungen, unter denen Sie mal zuhause gepflegt werden wollen, Herr Scholz“. Sind solche populistischen Mittel nötig oder geht es nicht anders?
Udja Holschuh: Wir hätten auch noch eine Unterschriftenliste anzubieten, die verlangt, dass Herr Lauterbach mal einen Tag lang jemanden pflegt. Alles, was die Aufmerksamkeit auf unser Thema „Nächstenpflege“ lenken kann, nutzen wir für die aktuelle Kampagne – auch aus dem Grund heraus, dass wer zuhause pflegt, einfach nicht auf die Straße gehen kann. Diese Menschen haben keine Zeit zum Demonstrieren oder sind selbst so krank, dass sie gar nicht demonstrieren könnten. Daher gilt für die Gestaltung der Kampagne: Möglichst viel Aufmerksamkeit für die häusliche Pflege erreichen und gleichzeitig unsere Inhalte und Forderungen transportieren.