Langzeitstudien gibt es noch nicht, aber erste Untersuchungen von psychischen Folgen des Lockdowns deuten darauf hin, dass die Beschränkung von sozialen Kontakten
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Psychische Auswirkungen des Lockdowns
„Ein Gefühl der Hilflosigkeit in der Pandemie kann Angststörungen oder Depression erklären“
Langzeitstudien gibt es noch nicht, aber erste Untersuchungen von psychischen Folgen des Lockdowns deuten darauf hin, dass die Beschränkung von sozialen Kontakten psychische Störungen entstehen lassen oder verschlimmern kann. Prof. Dr. Jörg Wolstein hat die Professur für Pathopsychologie an der Universität Bamberg inne und ist Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie. Wir haben mir ihm über psychische Auswirkungen des Lockdowns, deren Unterschiede bei Frauen und Männern, Warnsignale und Selbsthilfe gesprochen.
Die Monate der Ausgangsbeschränkungen bedeuten für viele Menschen, einen Großteil des Tages allein zuhause zu sein. Wie können sich fehlende soziale Kontakte auf die Psyche auswirken?
Jörg Wolstein: Das Entstehen von Symptomen wie Angst und Depression, die in den Zeiten der Pandemie vermehrt entstehen, sind sicherlich aber nicht allein auf das Ausbleiben von sozialen Kontakten zurückzuführen. Eine große Rolle spielen auch wirtschaftliche Sorgen, die Angst vor Ansteckung oder Sorgen um Angehörige. Ich denke, was viele Menschen berichten, nämlich, dass sie vermehrt Symptome einer Depression zeigen, wie Herabgestimmtsein oder Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit, ist typisch. Es gibt inzwischen eine ganze Reihe von Studien, die das belegen. Aber es stellt sich immer die Frage, ob der Grund für die Symptome nur in den sozialen Beschränkungen durch den Lockdown liegt oder in der gesamtgesellschaftlichen Lage der Pandemie. Ich glaube, das kann man nicht unterscheiden.
Betreiben Sie entsprechende Forschungen?
Jörg Wolstein: Nicht speziell zu diesen Symptomen. Bei uns am Lehrstuhl forschen wir zur Frage, wie sich die Pandemiesituation auf den Alkoholkonsum auswirken, vor allem bei Jugendlichen.
Wie entwickelt sich der Alkoholkonsum?
Jörg Wolstein: Insgesamt hat er nicht zugenommen, wie man meinen möchte. Ein Grund dafür könnte in diesem Fall tatsächlich das Fehlen von sozialen Kontakten bei den Jugendlichen sein. Auch der Alkoholverkauf ist statistisch nicht besonders angestiegen. Das Rauschtrinken ist eher weniger geworden. Aber bei Menschen, die schon vorher Alkoholprobleme hatten, kommen diese Probleme jetzt deutlicher zum Vorschein.
Gilt das auch für bestehende psychische Probleme?
Jörg Wolstein: Ja. Ähnlich ist es zum Beispiel bei Menschen, die schon vor der Pandemie Probleme hatten, soziale Kontakte zu pflegen. Diese sind sozial nun noch stärker isoliert. Wohingegen Menschen, die soziale Kontakte ohnehin intensiver pflegen, diese auch im Lockdown aufrechthalten. Die Möglichkeiten, zu telefonieren, eine Videokonferenz zu haben und so weiter bleiben ja bestehen. Das ist gut, denn soziale Kontakte beziehungsweise soziale Unterstützung, wie es in der Fachliteratur genannt wird, sind ein ganz wesentlicher Faktor für die psychische Gesundheit. Je besser man sie aufrechterhält, desto besser fühlt man sich. Dabei ist es kurzfristig nicht unbedingt wichtig, ob die Kontakte von Angesicht zu Angesicht stattfinden oder elektronisch. Wie sich ausschließlich elektronische Kontakte auf lange Sicht auswirken können, muss noch erforscht werden.
Welche Langzeitfolgen könnten sich ergeben?
Jörg Wolstein: Wir wissen bereits, dass die Zahl von Menschen mit Angststörungen oder Depressionen zugenommen hat. Allerdings gibt es schon seit dem 19. Jahrhundert Studien zur Frage, was mit Menschen passiert, die sich mit ihrer sozialen Umgebung nicht richtig identifizieren können und das Gefühl bekommen, die Kontrolle darüber zu verlieren, was mit ihnen passiert. Wir sind uns also schon seit über 100 Jahren der negativen psychischen Auswirkung von solchen Entwicklungen bewusst. Diese Studien zeigen seit jeher auch eine Erhöhung der Selbstmordrate auf. Ein moderneres Beispiel hierfür wäre der politisch-gesellschaftliche Umbruch des Mauerfalls, der ebenfalls einen Anstieg zur Folge hatte – besonders bei Männern. Auch wenn es bisher keinen Anhalt dafür gibt, dass die Selbstmordrate in der Pandemie angestiegen ist, ist die Zunahme von depressiven Störungen jedenfalls nicht überraschend.
Sie erwähnen eine besondere Gefährdung von Männern. Lässt sich eine generelle Geschlechtsabhängigkeit von diesen psychischen Auswirkungen feststellen?
Jörg Wolstein: Ja, Männer sind grundsätzlich gefährdeter, sich umzubringen, während Frauen insgesamt häufiger psychisch erkranken. Und die Frauen sind in der jetzigen Pandemie besonders im Stress: Die in den Schulen ausfallende Betreuung von Kindern wird zum Beispiel zum großen Teil von Frauen übernommen, was für sie eine deutlich höhere Belastung als in der Zeit vor der Pandemie bedeutet. Frauen sind oft einem höheren gesellschaftlichen Druck ausgesetzt, wie durch die Mehrfachbelastung aus beispielsweise Berufstätigkeit und Kinderbetreuung. Die Pandemie spitzt das nur nochmal zu. Es gibt aber auch einen anderen wichtigen Aspekt, bei der Erklärung von Geschlechterunterschieden: Die größere Anzahl von Fällen mit psychischen Erkrankungen bei Frauen könnte auch damit zusammenhängen, dass Frauen sich bei psychischen Problemen häufiger melden und Hilfe suchen. Männern fällt es schwerer, Traurigkeit oder Hoffnungslosigkeit als Krankheitssymptom anzuerkennen. Solche Symptome sind bei Männern sehr viel stärker selbstwertgefährdend als bei Frauen. Depression wird mit Schwäche gleichgesetzt.
Welche Warnsignale für solche psychischen Entwicklungen gibt es, die man an sich selbst oder an anderen feststellen kann?
Jörg Wolstein: Warnsignale einer psychischen Überbelastung können sein: Plötzliche Schlafstörungen, übermäßiges Grübeln, sich Sorgen machen, ohne dabei zu einem Ergebnis zu kommen, oder körperliche Probleme wie Magenbeschwerden oder chronische Schmerzen.
Neben professionellem Rat – was sind Möglichkeiten, sich selbst zu helfen?
Jörg Wolstein: Soziale Unterstützung, also die Pflege von sozialen Kontakten ist eine Möglichkeit. Frühs eine Runde joggen zu gehen, ist auch eine Lösungsstrategie. Man kann sich frühs auch einen gut strukturierten Zeitplan für den Tag zurechtlegen, der immer wieder Pausen vorsieht. Auch die Langzeitperspektive, zum Beispiel durch die sich beschleunigende Impfkampagne, ist derzeit nicht schlecht und kann Hoffnung bringen.
Auch auf Beziehungen wie Familienstrukturen oder Partnerschaft kann sich die Pandemie negativ auswirken, wenn man sozusagen ständig aufeinandersitzen muss. Welche Lösungsmöglichkeiten bieten sich hier?
Jörg Wolstein: Man sitzt viel mehr aufeinander und muss plötzlich viel mehr miteinander aushandeln und mehr aushalten als vorher. Dabei ist es wichtig, klare Absprachen über Rückzugsräume zu treffen, damit man auch mal Zeit allein verbringen kann. Man kann in der Wohnung Räume definieren, an denen, im Fall von Homeoffice oder Hausaufgaben der Kinder, gearbeitet wird, und Orte, an denen entspannt werden kann. Und wenn der Partner oder die Partnerin einmal gereizt ist, muss man die Einstellung entwickeln, das nicht auf sich zu beziehen und als Konflikt zwischen zwei Personen zu sehen, sondern den Grund dafür in der Pandemie zu suchen.
Menschen mit größerem Wohnraum sind also klar im Vorteil?
Jörg Wolstein: Ich weiß nicht, ob es dazu Studien gibt, aber das ist sicher denkbar.
Verbände warnen vor zunehmender häuslicher Gewalt oder sexuellen Übergriffen im häuslichen Umfeld. Teilen Sie diese Befürchtungen?
Jörg Wolstein: Ja, es gibt Berichte über eine Zunahme solcher Fälle. In der Regel geht häusliche Gewalt von Männern aus, oft wiederum in Verbindung mit Alkoholkonsum. Aber auch hier gilt, dass häufig zum Ausbruch kommt, was schon vorher problematisch war.
Können die Beschränkungen auch positive Auswirkungen haben?
Jörg Wolstein: Ja, es gibt auch Dinge, die sich in der Pandemie verbessert haben. Rund um das mobile Arbeiten sind durch Homeoffice-Regelungen ganz neue Möglichkeiten der Alltagserleichterung entstanden. Ich glaube auch, dass der Wert von sozialen Beziehungen zugenommen hat. Die Leute werden in Zukunft vielleicht sehr viel sorgfältiger mit Beziehungen umgehen. Viele Menschen haben die Monate des Lockdowns auch genutzt, um persönliche Projekte anzugehen, für die vorher die Zeit fehlte. Das kann der Keim für längerfristige Entwicklungen sein. Positives Denken ist ein wichtiger Schutzfaktor vor Depressionen.