Vom Bamberger Osten aus betreibt der soziale Dienstleister iSo – Innovative Sozialarbeit verschiedenste soziale Projekte. Mit Schwerpunkt auf Jugendhilfe bietet iSo unter anderem Erziehungshilfe, Jugendarbeit, Quartiersmanagement, Schulkindbetreuung und Freizeitgestaltung. 2020 feierten die über 200 Mitarbeitenden das 35-jährige Bestehen des gemeinnützigen Vereins. Angesicht sich vertiefender sozialer Probleme ist Sozialarbeit heute nötiger denn je. Matthias Gensner ist Geschäftsführer von iSo, ihn haben wir zum Interview getroffen.
Herr Gensner, warum wurde iSo – Innovative Sozialarbeit 1985 gegründet?
Matthias Gensner: iSo – Innovative Sozialarbeit wurde von Mitarbeitern des Gesundheitsamtes gegründet, die gerne mehr und verschiedenere soziale Projekte umsetzen wollten, was die damaligen Amtsstrukturen aber nicht so einfach zuließen. Und wie man es in Deutschland in solchen Fällen eben macht, gründeten sie einen Verein, um ihre Ideen zu verwirklichen. Es ging zum Beispiel um den ersten psychosozialen Beratungsführer der Region oder Unterstützung von Selbsthilfegruppen.
Spielte bei der Gründung auch soziale Notwendigkeit eine Rolle? Gab es sonst kaum oder keine sozialen Initiativen?
Matthias Gensner: Mit Sicherheit. Das ganze Denken im sozialen Bereich hat sich damals verändert – weg von dem Obrigkeitsstaatlichen alles den Behörden zu überlassen, hin zur ehrenamtlichen Hilfe zur Selbsthilfe. Die Gesundheitsämter waren früher doch eher restriktiv eingestellt und wenig orientiert an den Bedürfnissen der Leute in schwierigen sozialen Lagen. Ein großes Thema seitdem ist auch die Prävention, also zu agieren, wenn Hilfe nötig ist, und nicht erst, wenn es zu spät ist.
Was ist das namensgebende Innovative der iSo?
Matthias Gensner: Wir versuchen grundsätzlich immer, uns und unser Arbeiten zu hinterfragen und in der Sozialen Arbeit neue Wege zu gehen. Das gelingt uns in vielen Dingen. Beispielsweise dadurch, dass wir systemübergreifend tätig sind. Wir haben keine Berührungsängste mit anderen gesellschaftlichen Bereichen wie Sport, Politik oder Wirtschaft. Wir sind überzeugt, dass soziale Themen und Notlagen nur dann wirksam bearbeitet werden, wenn systemübergreifend gedacht wird. Wichtig ist uns der Fokus auf Kooperation, nicht auf Abgrenzung. Im Einzelnen versuchen wir immer wieder innovative Arbeitsansätze zu verfolgen. Wir waren sozusagen schon ein Start-up, als es den Begriff noch gar nicht gab. Im Unterschied zu etablierten sozialen Trägern, boten wir von Anfang an den Mitarbeitern den Raum ihre eigenen Ideen und Innovationsvorhaben einbringen zu können. Es herrscht bei uns ein Geist der Weiterentwicklung.
In der Selbstbeschreibung der iSo fällt außerdem das Wort „Unkonventionalität“. Wodurch ergibt sich diese?
Matthias Gensner: Sie ist ein Teil des Innovativen. Wer innovativ sein will, muss Dinge einfach mal machen. Dazu gehört auch Scheitern. Unser Innovationsverständnis geht auch in die Richtung Projekte kurzentschlossen und vielleicht mal hemdsärmelig anzupacken. Das könnte man unkonventionell nennen. Zum Beispiel haben wir bereits 2010 angefangen, unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Smartphones auszustatten, damit sie anschlussfähig an unsere jugendliche Zielgruppe sind, bei denen mediale Kommunikation sehr bedeutsam ist. Das war damals höchst unüblich.
Wie setzt sich Ihre Zielgruppe neben Jugendlichen außerdem zusammen?
Matthias Gensner: Sie ist sehr breit aufgestellt, wobei der Großteil tatsächlich von Kindern und Jugendlichen ausgemacht wird. Entsprechend betreiben wir über 20 Jugendprojekte. An den Jugendlichen hängen aber natürlich auch Familien. So machen wir Betreuungsangebote in Ganztagsschulen oder in Horten, wovon Familien profitieren können. Außerdem sind wir im Auftrag des Jugendamtes tätig und bieten Unterstützung bei familiären Konflikten. Aber auch andere Bereiche sind uns wichtig, wie die Verständigung der Generationen oder unsere Zusammenarbeit mit Kommunen.
Ist der Fokus auf Jugendliche, Kinder und Familien etwas, wofür sich iSo – Innovative Sozialarbeit in ihrer Vorgehensweise entschieden hat oder etwas, das wiederum aus sozialer Notwendigkeit abgeleitet wurde?
Matthias Gensner: Grundsätzlich schauen wir immer, wo Bedarf besteht. Wir wollen etwas nicht tun, nur damit wir es tun. Das passt wieder gut zur Innovation, weil sich Bedarfslagen verändern. Themen, die heute aktuell sind, hatten wir vor zehn oder 15 Jahren noch nicht. Deswegen müssen wir uns auch permanent hinterfragen. Dabei gehen wir auch auf die Themenwünsche der Jugendlichen ein und greifen sie auf. Vor ein paar Jahren hatten zwei Jugendliche die Idee, Smartphone-Kurse für Seniorinnen und Senioren anzubieten – mit dem Ergebnis, dass der Kurs schon am nächsten Tag ausgebucht war.
Die gesellschaftliche Spaltung entlang verschiedener Konfliktlinien nimmt zu. Machen sich solche Entwicklungen auch in Ihrem Tätigkeitsfeld bemerkbar?
Matthias Gensner: Ja. Ich möchte nichts skandalisieren, aber gerade am Rand der Gesellschaft nehmen Konflikte zu. Wir registrieren zunehmende gesellschaftliche Ausgrenzungserfahrungen bei Jugendlichen, Gewalt oder Verwahrlosung.
Eine dieser Konfliktlinien verläuft aktuell zwischen dem Teil der Bevölkerung, der sich gegen das Coronavirus impfen lässt und dem Teil, der das nicht tut. Stoßen Sie im Kontakt mit den Familien, die Sie betreuen zuweilen auf Impfskepsis und Impfunwillige? Wie ausgeprägt sind diese
gesellschaftlich unsolidarischen und fehlgeleiteten Einstellungen? Wie gehen Sie dagegen vor?
Matthias Gensner: In unserer Arbeit stoßen wir natürlich auch auf Personen, die skeptisch gegenüber Impfungen sind, unabhängig vom sozialen Milieu. Es spiegelt sich die gesellschaftliche Realität wider. Die Qualität der Skepsis ist oft sehr unterschiedlich. Gerade bei isoliert lebenden Familien erleben wir häufiger sehr schwierige Perspektiven, welche durch eine intensive Nutzung der Sozialen Medien noch verstärkt werden. Es kommt sogar vor, dass bei Kindern der Schulbesuch verhindert wird. Hier stellt sich immer die Frage des Kindeswohls. Grundsätzlich versuchen wir zu informieren und aufzuklären, aber auch wieder Brücken in die Gesellschaft zu bauen. Leider gelingt uns das nicht immer.
Wie weit kann man als Jugendhilfeträger gesellschaftliche Strukturen, die Konflikte bedingen, verbessern?
Matthias Gensner: Strukturen zu verändern ist schwer. Aber innerhalb unserer Mittel, dem Kontakt und der Zusammenarbeit mit Jugendlichen, ist Vieles möglich. Da können und haben wir die Lebensgeschichten von einzelnen Jugendlichen verändert. Wir versuchen jedoch schon auf solche Missstände auch an höherer Stelle aufmerksam zu machen. Aktuell planen wir zum Beispiel ein Podiumsgespräch mit Dr. Ulrich Schneider, dem Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, bei dem Jugendliche ihre Themen platzieren können. Wir möchten also nicht nur unmittelbar mit der Zielgruppe arbeiten, sondern Themen auch außerhalb ansprechen.
Auf welche Erfolge kann iSo – Innovative Sozialarbeit in ihrer 36-jährigen Geschichte zurückblicken?
Matthias Gensner: Ich bin sehr stolz darauf, dass wir viele Projekte initiiert haben, auf die Andere blicken und sagen: Das ist für uns modellhaft. Auch so funktioniert für uns innovative Sozialarbeit. Unser Projekt „BasKIDball“ zum Beispiel, das ist offene, sportbezogene Jugendarbeit anhand von Basketball, haben wir 2007 in Bamberg begonnen – mittlerweile wird es deutschlandweit an über 22 weiteren Standorten betrieben. Aber auch die kleinen Erfolge zählen. Wenn man Rückmeldung von Jugendlichen bekommt, die dank unserer Arbeit diese oder jene Entwicklung in ihrem Leben genommen haben, freut uns das sehr.
Würden Sie sagen, dass vor Ort herrschende soziale Missstände eher Ergebnis bundesweiter politischer Versäumnisse sind oder durch Bamberger Politik verschuldet wurden?
Matthias Gensner: Es ergibt wenig Sinn, jemandem den schwarzen Peter zuzuschieben. Wir erleben hier in der Region, dass soziale Themen und Probleme oft unmittelbar aufgegriffen werden. Bedauerlich ist es nur, wenn dann die erforderlichen finanziellen Mittel nicht vorhanden sind. Wobei die hiesigen Kommunen mittlerweile sehr viel in die soziale Infrastruktur investieren. Grundsätzlich muss etwas passieren. Es geht nicht darum, dass nur die Politik etwas unternimmt. Erforderlich ist meines Erachtens ein gesamtgesellschaftlicher Kraftakt. Wo brauchen wir vielleicht eine neue Werte-Orientierung? Muss immer einem ökonomischen Ideal hinterhergerannt werden oder wäre eine Orientierung am Gemeinwohl vielleicht besser? Wie schaffen wir eine sozial-ökologische Wende? Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter melden zurück, gerade in der Arbeit mit jungen Leuten, dass ihnen eine Arbeit mit Sinn wichtig ist und dies zufrieden macht. Manchmal bewerben sich Leute bei uns, die vorher in der Wirtschaft gearbeitet haben. Sie wissen, dass sie bei iSo weniger verdienen, bei uns aber etwas mit Sinn machen. Ich denke, es ist also nicht nur ein Thema für die Politik, dies und das zu tun, sondern gesamtgesellschaftlich sollten Anstrengungen unternommen werden, damit Gemeinwohl und Gemeinsinn wieder wachsen. Es hat sich während der Pandemie auch ganz gut gezeigt, dass das funktionieren kann, zum Beispiel beim Thema Nachbarschaftshilfe. Wir erleben das in den letzten Jahren an einer Zunahme von Freiwilligendiensten, wie freiwillige soziale Jahre oder dem Bundesfreiwilligendienst.
Wie wichtig ist Eigeninitiative, also der Wille, sich helfen zu lassen, bei der Zielgruppe?
Matthias Gensner: Extrem wichtig. Es kann niemand zu einer Veränderung der Lebensumstände gezwungen werden, wenn die Person Veränderungen nicht möchte. Wir müssen immer an einem gewissen Bedarf nach Veränderung ansetzen. Dabei ist es aber wichtig, die Leute bei ihren Stärken zu greifen. Wir machen ihnen keine Vorwürfe, sondern schauen auf das Positive. Andererseits packen wir aber auch niemanden in Watte. Wir nehmen die Leute und ihre Anliegen ernst, fordern sie aber auch.
Sie haben auch soziale Angebote im eher ländlichen Raum wie Strullendorf oder Trunstadt. Unterscheiden sich dort die Anliegen der Menschen von denen im eher städtischen Raum?
Matthias Gensner: Ja, da erleben wir schon einen Unterschied. Die Probleme sind dort nicht ganz so häufig. Das heißt nicht, dass auf den Dörfern heile Welt herrscht, aber die Sozialstrukturen sind schon andere. Der soziale Zusammenhalt oder das Zusammenwirken sind dort noch stärker ausgeprägt. Das Vereinsleben spielt eine große Rolle dabei. Ich sage mal so, je weiter man von Bamberg weg ist, desto mehr gegenseitige Unterstützung und Verwurzelung in der Gemeinde erleben wir.
Hat iSo – Innovative Sozialarbeit auch spezielle Angebote für migrantische Gruppen?
Matthias Gensner: Neben besonderen Angeboten wie Aktiv – Flucht und Migration versuchen wir verschiedene gesellschaftliche Gruppen immer insgesamt anzusprechen, Menschen mit migrantischem und nicht-migrantischem Hintergrund zusammenzubringen und keine voneinander losgelösten Gruppen zu betreuen. Das gilt idealerweise nicht nur für diese Gruppen, sondern zum Beispiel auch für Jugendliche von verschiedenen Schultypen. Gemeinschaft und Begegnung sind extrem wichtig für uns.
Wo stößt iSo an die Grenzen? Brauchen Sie selbst manchmal Hilfe von externen Kräften?
Matthias Gensner: Wir bewegen uns in einem Feld, in dem die Ressourcen immer knapp sind. Das ist anstrengend und man braucht Durchhaltevermögen. Zur Not haben wir in der Region aber auch ein tolles Netzwerk an Unterstützern und Partnern. Daraus können wir auch viel Energie ziehen.
Auf Ihrer Homepage prangern Sie unter der Rubrik “Gedanken der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter” eine gewisse Stigmatisierung der Sozialen Arbeit an. Würden Sie darauf bitte genauer eingehen?
Matthias Gensner: Da geht es einerseits um Klischees gegenüber Sozialarbeit. Das sind diese Gutmenschen mit ihren Strickpullis und ihrer aufgesetzten Wohltätigkeit, die immer nur über Probleme reden, aber eigentlich nichts dagegen tun. Dem versuchen wir entgegenzutreten. Anderseits aber auch um die Stigmatisierung der Zielgruppen und Adressaten. Soziale Arbeit ist absolut wichtig und ein Zukunftsfeld, das immer erforderlicher wird.