1924 veröffentlichte Thomas Mann seinen Epochenroman „Der Zauberberg“. Zum 100. Jubiläum des Erscheinens haben wir mit Prof. Dr. Friedhelm Marx von der
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1924 erschienen
100 Jahre „Der Zauberberg“: Literaturwissenschaftler Friedhelm Marx im Interview
1924 veröffentlichte Thomas Mann seinen Epochenroman „Der Zauberberg“. Zum 100. Jubiläum des Erscheinens haben wir mit Prof. Dr. Friedhelm Marx von der Universität Bamberg über den Klassiker gesprochen.
In Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ möchte Hans Castorp eigentlich nur seinen Vetter Joachim in einem Schweizer Sanatorium namens „Berghof“ besuchen. Aus diesem, nur für kurze Zeit geplanten Aufenthalt in der entlegenen Welt des Hochgebirges werden allerdings sieben Jahre. Eine Zeit, in der Castorp auf allerlei weltentrückte Figuren trifft und mit ihnen über Politik, Philosophie, Liebe, Krankheit und Tod spricht. Erst der Ausbruch des 1. Weltkriegs beendet das Zusammenleben auf dem Zauberberg, Castorp wird eingezogen und verschwindet zuletzt auf den Schlachtfeldern.
Nun ist es 100 Jahre her, dass „Der Zauberberg“ 1924 erschien, und 2024 wird landesweit ein großes Jubiläumsprogramm zeitigen. Zum Beispiel im August findet eine international besetzte Zauberberg-Tagung in Davos statt. Die neue, kommentierte Gesamtausgabe der Werke Thomas Manns, an der Prof. Dr. Friedhelm Marx von der Universität Bamberg seit Jahren mitarbeitet, wird fast vollständig erschienen sein. Im Winter hielt der Literaturwissenschaftler eine Vorlesung zu Thomas Manns Werk, im Februar eröffnete er das aktuelle VHS-Semester mit einem Vortrag zum „Zauberberg“. Wir haben mit Friedhelm Marx über den „Zauberberg“, seinen Verfasser, seine Entstehungszeit und aktualisierte Lesarten gesprochen.
Herr Marx, einer Ihrer Forschungsschwerpunkte ist das Werk von Thomas Mann. Warum?
Friedhelm Marx: Ich kann nicht behaupten, dass ich bereits mit acht Jahren Thomas Mann gelesen hätte. Nicht einmal in der Schule spielte er bei mir eine Rolle. Die erste Lektüre-Erfahrung fand eigentlich erst im Studium in Tübingen statt – mit „Buddenbrooks“. Das war allerdings ein sehr prägender Leseeindruck, der sich im weiteren Studium noch gefestigt hat. Und letztlich habe ich meine Habilitation über Thomas Mann verfasst.
Ist „Der Zauberberg“ ausgeforscht oder kann man noch Neues herauslesen?
Friedhelm Marx: Ausgeforscht? Nein, nein! Es ist ein sehr starker Roman, der uns heute noch viel zu sagen hat. Ein Werk der Weltliteratur. Ich bin schon sehr gespannt, was allein in diesem Jubiläumsjahr alles herauskommen wird. Es gibt eine ganze Reihe von Veranstaltungen, Ausstellungen oder Tagungen zum „Zauberberg“, in Lübeck, Davos, Bad Tölz und andernorts.
Im derzeitigen Wintersemester halten Sie eine Vorlesung zum Werk von Thomas Mann, ausgehend vom „Zauberberg“. Gab es neben dem Jubiläumsjahr einen weiteren Grund, die Vorlesung an diesem Roman festzumachen?
Friedhelm Marx: Ja. „Der Zauberberg“ ist eine Art Schwellentext im Werk Thomas Manns. Einerseits weist er eine ganze Reihe von Bezügen, Motiven und Ausdrucksformen des Frühwerks auf: Themen wie Verfall oder Todessehnsucht, der Seelenzauber der Musik wären Beispiele dafür. Auch die Atmosphäre eines Sanatoriums erprobte Mann literarisch schon in der Novelle „Tristan“ von 1901. Alles Dinge also, die einen gewissen Vorlauf haben und hier noch einmal neu inszeniert werden. Und zugleich begab sich Thomas Mann mit dem „Zauberberg“ auf ganz neues Terrain, indem er brennende politische Fragen der Gegenwart aufnahm. Abgesehen von seinem Großessay „Betrachtungen eines Unpolitischen“ von 1918 war das vorher nicht der Fall gewesen.
Stimmt es, dass sich Thomas Mann während der Arbeit am „Zauberberg“ von einem Anhänger der kaiserlichen Monarchie zu einem Verfechter der Demokratie der Weimarer Republik wandelte?
Friedhelm Marx: Die Entstehungszeit des Romans erstreckte sich von 1913 bis 1924 über fast 12 Jahre, unterbrochen vom Ersten Weltkrieg und der Niederschrift der „Betrachtungen“. Darin bekannte sich Mann noch sehr deutlich zur Monarchie und zeigte sich nicht gerade als Freund der Demokratie und des Republikanismus. Kurz nach dem Krieg wankte diese Position aber bereits und erodierte nach und nach. 1922 hielt er die vielbeachtete Rede „Von deutscher Republik“, in der er sich sehr eindeutig zur Weimarer Republik bekannte. Das war für all diejenigen, die ihn als konservativen Vertreter der Monarchie schätzten, ein Schlag ins Gesicht. Entsprechend brachte ihm die Rede viel Kritik ein. Und diese Wende vollzog sich genau im Arbeitsprozess der Niederschrift des „Zauberbergs“.
Es bedurfte also nichts weniger als eines Weltkrieges, um ihn umzustimmen?
Friedhelm Marx: In gewisser Weise: ja. Hinzu kamen die Erfahrungen der extrem bewegten Zeit der unmittelbaren Nachkriegsjahre. In München, sozusagen vor seiner Haustür, etablierte sich kurzfristig eine revolutionäre Räterepublik, es folgten gesellschaftlich sehr instabile Jahre der Weimarer Republik. Der Mord an Walther Rathenau im Jahr 1922 gab für Thomas Mann den letzten Ausschlag, sich öffentlich für die Weimarer Republik stark zu machen. Sein publikumswirksamer Einsatz für die junge Demokratie brachte ihm dann sehr bald auch den Hass der aufkommenden nationalsozialistischen Bewegung ein.
Blieb es beim Hass oder wurde es gefährlicher?
Friedhelm Marx: In Thomas Manns Personalakte, die die Politische Polizei in München seit den frühen 1920er Jahren führte, wurde festgehalten, was die rechtskonservativ und nationalsozialistisch orientierte Presse ihm vorwarf: deutschfeindliche Gesinnungen, Bolschewismus” und „jüdische Versippung”: Material für die ab 1933 betriebene Ausbürgerung Manns und den Schutzhaftbefehl der Gestapo. Zu diesem Zeitpunkt, Anfang 1933, war Thomas Mann auf einer Vortragsreise im europäischen Ausland, von der er auf Anraten seiner politisch hellwachen Kinder, Erika und Klaus, nicht mehr nach Deutschland zurückkehrte.
Aber wollte Mann in den 1920ern mit dem Roman provozieren?
Friedhelm Marx: Es ist ein durchaus provokativer Text, was sich an zeitgenössischen Reaktionen ablesen lässt. So gab es starken Protest aus der Ärzteschaft. Dort sah man sich verleumdet, weil der Sanatoriums-Betrieb im Roman ganz offen als „Business“ dargestellt wurde. Ein Geschäftsmodell, das auch darauf abzielte, vermögende Patientinnen und Patienten möglichst lange in einer Klinik zu halten. Und wenn man sich die Begründung der Stockholmer Jury, die ihm 1929 den Nobelpreis verlieh, anschaut, fällt auf, dass der „Zauberberg“ darin überhaupt nicht erwähnt wird. Dem damals überwiegend nationalkonservativ eingestellten Komitee missfielen die Internationalität des Romans und seine vielseitigen politischen Debatten. Den Preis hat Mann ausdrücklich für die „Buddenbrooks“ bekommen, sein Roman-Debüt aus dem Jahr 1901.
Welchen Stand hat „Der Zauberberg“ heute in der Literaturforschung?
Friedhelm Marx: Hier wird der Roman zunehmend als literarische Enzyklopädie der Moderne wahrgenommen. Das ist auf den ersten Blick erstaunlich – spielt der Roman doch in Bergen, weitab von Berlin oder Wien, den urbanen Zentren der Moderne. Wenn man sich aber näher anschaut, was vor diesem Hintergrund alles verhandelt wird, entdeckt man viel Zeitgenössisches. Hans Castorp begegnet dort oben zum Beispiel der Psychoanalyse – ein neues, umstrittenes Wissenschaftsparadigma damals – und allerlei neuen technischen Entdeckungen wie dem Röntgenapparat, modernen Unterhaltungsmedien wie dem Grammofon oder dem Kino. Dahinter steckt die Idee, dass der Roman sich der Gegenwart der Weimarer Republik und der Moderne stellen will. Selbst die zeitgenössische Sportbegeisterung kommt zur Sprache, denn Skifahren spielt eine wichtige Rolle.
Eine Szene beschreibt eine Geisterbeschwörung. Waren Séancen damals auch im Trend?
Friedhelm Marx: Ja, durchaus. Thomas Mann hat 1923 in München selbst an Sitzungen von Albert von Schrenck-Notzing, einem Star der damaligen okkultistischen Szene, teilgenommen und darüber berichtet. Seine Haltung dazu war allerdings von Ambivalenz geprägt, was sich auch im Zauberberg-Roman niederschlägt.
Zurück zu Ihrer Vorlesung: Ist der Roman für Studierende einer von vielen, an dem man für ECTS-Punkte eben vorbei muss, oder wird ihm größere Bedeutung beigemessen?
Friedhelm Marx: Das müssten Sie die Studierenden fragen! Meine Vorlesung ist jedenfalls ganz gut besucht. Und ich denke, den Studierenden geht es nicht nur um ECTS-Punkte. Für sie ist Thomas Mann nach wie vor ein wichtiger Autor und „Der Zauberberg“ nach wie vor ein wichtiger Roman der Weltliteratur. Vielleicht für den heutigen Geschmack ein wenig zu lang… Mir scheint er trotzdem zugänglich und lesbar.
Kamen in der Vorlesung bereits Reaktionen wie: Was interessiert mich, was ein alter, weißer Mann vor 100 Jahren geschrieben hat?
Friedhelm Marx: Direkt erreichen mich solche Reaktionen nicht, aber insgesamt haben sich die Interessen der Studierenden, wie ich finde zurecht, verschoben. Neben den „üblichen Verdächtigen“ des literarischen Kanons gibt es eine Vielzahl von Autorinnen aus der Zeit der Weimarer Republik zu entdecken oder wiederzuentdecken. Und wir achten natürlich darauf, nicht nur Texte von alten, weißen Männern in den Blick zu nehmen.
An welchen Stellen ist der Roman schlecht gealtert?
Friedhelm Marx: Das kann ich nicht sagen. Vielleicht bin ich befangen, aber ich sehe eher Anknüpfungspunkte für die Gegenwart. „Der große Stumpfsinn“: so lautet eine Kapitelüberschrift des Romans. Das kommt uns auf bestürzende Weise bekannt vor.
Zur VHS-Semestereröffnung haben Sie am 20. Februar den Vortrag „Auszeit im Hochgebirge: Thomas Manns Zauberberg revisited“ gehalten. Gingen Sie dabei in diese Richtung der Anknüpfungspunkte für die Gegenwart?
Friedhelm Marx: Ja, dabei ging es darum, was man aus heutiger Sicht und mit heutigem Wissen im Roman etwas schärfer wahrnimmt. Ein Beispiel dafür wäre die Lebensform der„Auszeit“. Hans Castorp ist nicht nur im Sanatorium, um zu sehen, was sein Vetter als Patient dort macht. Er ist auch da, weil er – durch sein Studium übrigens – körperlich angegriffen, ein wenig ausgebrannt und überlastet ist. Manns „Zauberberg“ ist auch ein Burnout-Roman.
Welchen Ansatzpunkt für eine heutige Lesart bietet die rechtsextremistische, antidemokratische Nebenfigur Leo Naphta?
Friedhelm Marx: Naphta ist eine merkwürdige Figur, in der sich Religiosität, revolutionärer Elan und Terror vereinen. Diese Positionen bringt Naphta in Stellung gegen die sehr aufklärerisch und fortschrittlich gesinnte Erzieherfigur Settembrini. Und Castorp steht dazwischen. Mit Naphta beginnen die politischen Debatten im Roman, die Streitgespräche. Er ist ein Scharfmacher, der den Terror verteidigt, zweifellos inspiriert durch Manns Erfahrung der Revolution in Bayern. Es ist kurz vor dem Ende der Erzählung dann auch von einer großen Gereiztheit die Rede, einem Vorklang auf das Entladungsgeschehen des Weltkriegs. Einen solchen Krieg sehe ich nicht auf uns zukommen, aber die Wahrnehmung einer zunehmenden Polarisierung, einer politischen Gereiztheit – die haben wir heute auch. Auch was die Streitkultur des Textes betrifft, ist es ein sehr aktueller Roman.
Eine weitere wenig positive Nebenfigur ist der protzige, schwafelnde Mynheer Peeperkorn, der sich umbringt, weil er denkt, seine Manneskraft lässt nach. Ließe sich anhand seiner Person ein heutiger Diskurs wie etwa der der toxischen Männlichkeit demonstrieren?
Friedhelm Marx: Das sehe ich so nicht, jedenfalls nicht im Kontext der Metoo-Debatte. Im Roman steht Peeperkorn für ein Bekenntnis zum Leben und zur Sinnlichkeit. Das äußert sich etwa in einem wüsten, dionysischen Gelage, das er zu später Stunde im Sanatorium veranstaltet. Als er sich seiner Männlichkeit nicht mehr gewiss ist, bringt er sich um. Das ist aber kein Lebensmodell, das der Roman verteidigt. Im Grunde führt er es vor.
Beeinflusste „Der Zauberberg“ die Werke, die Thomas Mann danach schrieb?
Friedhelm Marx: Ja, vor allem, was das Politische angeht. Der Roman „Doktor Faustus“ von 1947, der die Genese des Nationalsozialismus aufzuarbeiten versucht, ist das offensichtlichste Beispiel. Aber auch die Novelle „Mario und der Zauberer“, eine Reisegeschichte, die 1930 erschien, kann man hier nennen. Sie beobachtet den in Italien aufkommenden Faschismus. Aus dem „Zauberberg“ nimmt sie die Beobachtung der Hypnose auf und lädt sie machtpolitisch auf: Die Zaubererfigur der Novelle trägt unverkennbar proto-faschistische Züge. Auch in der Tetralogie „Joseph und seine Brüder“ finden wir einen solchen Seitenblick in die Gegenwart. Sie spielt zwar in ferner, biblischer Vergangenheit, wird aber immer wieder durchsichtig gemacht für aktuelle politische Fragen. So hat die Joseph-Figur einige Züge des US-Präsidenten Roosevelt, den Mann im amerikanischen Exil als Gegenspieler Hitlers sehr bewunderte.
Wie wollte er, dass „Der Zauberberg“ verstanden wird?
Friedhelm Marx: Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg hatte Thomas Mann große Zweifel, ob er den Roman, ein Vorkriegsprojekt, überhaupt fortsetzen könnte – so steht es in seinen Tagebüchern. Er kam aber zu dem Ergebnis: Das lasse ich nicht unvollendet, es ist ein zu großes Projekt, ich mache es fertig. Und dies wollte er in einer Art und Weise tun, dass der Roman ein Text der Moderne wird, adressiert an die Gegenwart der Weimarer Republik. In Manns ursprünglichem Plan, nur eine kleine Novelle über einen Sanatoriumsaufenthalt zu schreiben, war das alles überhaupt nicht enthalten.
Haben Sie eine Lieblingsszene in „Der Zauberberg“?
Friedhelm Marx: Schwierige Frage. Ganz stark ist die Schilderung der Ankunft Hans Castorps in Davos. Das ist das allererste, sehr kurze Kapitel, aber es enthält eigentlich schon den ganzen Roman – alles ist da. Wobei es erzählerisch aber auch sehr dankbar ist, eine Ankunft zu beschreiben. Jemand reist zu einem neuen Ort und bestaunt alles, was dort als selbstverständlich gilt: den merkwürdig-breiigen Husten, der überall zu hören ist, Leichen, die per Schlitten ins Tal gefahren werden, die verrückte Gesellschaft des Sanatoriums, den ausgesprochen laxen Umgang mit der Zeit. All das wird auf sehr unterhaltsame Weise aus der Perspektive Castorps beschrieben: der perfekte Einstieg.