Mit dem Debütalbum „Selig“ schrieb das Hamburger Quintett Selig 1994 deutschsprachige Rockgeschichte, mit dem Comeback-Album „Und endlich unendlich“ (2009) nach der Reunion
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Selig
Aufrichtig sein in einer unaufrichtigen Zeit
von Frank Keil
Mit dem Debütalbum „Selig“ schrieb das Hamburger Quintett Selig 1994 deutschsprachige Rockgeschichte, nicht zuletzt dank Hits wie „Ohne dich“ und „Sie hat geschrien“.
Zwei weitere Alben folgten, doch persönliche und musikalische Differenzen führten bereits 1998 zur Trennung. Nach einer Best Of-Veröffentlichung machten die ehemaligen Mitglieder mit Bands wie Kungfu, Zinoba und TempEau in unterschiedlichen Besetzungen weiter. 2008 kam es zur überraschenden Reunion in der Originalbesetzung mit Sänger Jan Plewka, Gitarrist Christian Neander, Bassist Leo Schmidthals, Schlagzeuger Stoppel Eggert und Keyboarder Malte Neumann. Mit dem Comeback-Album „Und endlich unendlich“ (2009) erlangten sie erstmals Goldstatus. Wie es danach weiterging verrät uns Frontmann Jan, der mit seiner Familie in Ahrensburg lebt.
Ein weiter Weg von eurem frühen „Hippie-Metal“ über drogengeschwängerten Rock und Elektronik-Ausflüge hin zum alten Stil der Band. Fühlt ihr euch heute als Quartett wieder wohl? Ihr scheint wieder eine Familie zu sein?
Jan Plewka: Definitiv, denn als wir 2014 nach dem Ausstieg von Malte auf Tournee einen Computer einsetzten, der in Karlsruhe auf einem Open Air komplett ausfiel, war uns klar: Wenn es weitergeht, dann nur ohne Keyboards und nur zu viert. Jeder einzelne von uns spürt den Geist der späten 1960er und frühen 1970er Jahre und der verbindet sich mit unserem Lebensgefühl und den verschiedenen Persönlichkeiten zu aktueller Musik. Und unsere Handschrift bleibt, egal ob wir Funk, Pop oder Rock spielen. Was das Verhältnis untereinander angeht, ist es sogar tragischer als in einer Familie. Es ist eine Ehe, wild und frei, die durch gegenseitige Freiheiten, Pausen und Soloprojekte besser als in den ersten vier Jahren läuft.
Mit drei weiteren Alben und einer Best Of zwischen 2010 und 2017 gelang euch der Spagat zwischen alten Fans und jungen Anhängern. Was siehst du in diesem Sinne rückblickend als Meilensteine der Band-Historie an?
Jan Plewka: Ja, das ist super, dazu gibt es auch eine Anekdote. Ein Mädchen schrieb uns: Ich habe den Plattenschrank meiner Eltern durchsucht und bin da auf Selig gestoßen. Jetzt gehen wir zusammen zum Konzert. Was den zweiten Teil deiner Frage angeht: Für mich sind die Meilensteine keine Alben, sondern einzelne Lieder auf den Alben, die für uns und für mich die persönliche Dimension erweitert haben. Ich habe immer das Lied am liebsten, das ich gerade höre.
Für euer achtes Album „Myriaden“ habt ihr euch viel Zeit genommen. Zwei Jahre wurde daran geschrieben. Gibt es eine Kernaussage zwischen „Süßer Vogel“ und „Du“?
Jan Plewka: Wir haben uns immer wieder getroffen und haben unter anderem in einem Ferienhaus in Dänemark, bei Christian in seinem Studio in Berlin oder in unserem Proberaum außerhalb von Hamburg an den Stücken gearbeitet. Die Magie zwischen uns ist zurück, es war wie früher. Ich nutze ja schon seit Jahren Notizbücher für meine Ideen, schreibe eigentlich immer. Und im Jam blättere ich in den Büchern und wenn die Musik und die Worte zueinander passen, ergeben sich einfach faszinierende Momente. Auf „Myriaden“ geht es darum, wie wir als Menschen miteinander und mit der Erde umgehen, angesichts von zahlreichen Herausforderungen politischer und gesellschaftlicher Art.
Bei den Aufnahmen zum zweiten Album „Hier“ (1995) habe ich euch in den ICP-Studios in Brüssel besucht und damals auch Produzent Franz Plasa kennengelernt. Auch mit ihm herrschte sehr lange Funkstille, ihr seid nicht im Guten auseinander gegangen. Wie kam es dazu, dass er jetzt „Myriaden“ produziert hat?
Jan Plewka: Wir wollten mit einem fremden Produzenten arbeiten. Christian suchte einige aus, spielte uns verschiedene Titel vor. Der, dessen Sound uns am besten gefiel, war ausgerechnet Franz. Wir haben ihn angerufen und er hat zugesagt, die erste Single zu machen. Das lief so gut, dass sich dann mit den Album-Aufnahmen der Kreis zu früher schloss.
Auf dem Limited Deluxe Digipack gibt es zusätzlich 12 „Myriaden“ Live Takes zu hören. Was hat es damit auf sich?
Jan Plewka: Covid-19 bedingt hatten wir viel Zeit. Da kamen wir im Studio auf die Idee, die Songs im Anschluss an die Album-Produktion noch als Live-Versionen einzuspielen. Auf einer kleinen Bühne, in einem anderen Gewand.
MTV und VIVA haben Mitte der 1990er Jahre maßgeblich zu eurem Erfolg beigetragen. Sind euch Videos immer noch wichtig?
Jan Plewka: Social Media verändert sich rasant und damit auch die Aufmerksamkeitsspanne für ein Video. Die wird leider immer kürzer und auch die Budgets werden immer geringer. Die Bedeutung der Videos schwindet damit.
In unregelmäßigen Abständen hast du auch immer wieder als Schauspieler für TV, Kino und Bühne auf dich aufmerksam gemacht. Gibt es da Neuigkeiten zu berichten?
Jan Plewka: Ich sehe mich als Sänger mit einer Affinität zur Schauspielerei. Ich fühle mich mehr auf der Bühne wohl und bin noch besonders beim Theater leidenschaftlich. Zuletzt habe ich unter anderem bei Elfriede Jelinek am Burgtheater in Wien „Die Winterreise“ gesungen. Und wenn alles gut geht, werde ich bald an der Aufführung des Shakespeare-Stücks „Der Sturm“ in Luxemburg teilnehmen. Das Theater ist mir hold.
Du bis unter dem Motto „Jan Plewka singt Rio Reiser“ aufgetreten. Wandelst du noch immer erfolgreich auf den Spuren der Kultrockband Ton Steine Scherben?
Jan Plewka: Ja, mit zwei unterschiedlichen Shows und Schwerpunkten, die auf Rio Reiser und auf Ton Steine Scherben ausgerichtet sind. Insgesamt sind wir damit jetzt seit 17 Jahren unterwegs. Mit Selig rechne ich allerdings erst mit einer Tournee im Frühjahr 2022. Zumindest hatten wir kürzlich ein Live-Stream-Konzert in Bremen gespielt, das uns allen riesig Spaß gemacht hat.