Das Bamberger Don Bosco Jugendwerk leistet mit dem Zirkus Giovanni ein seltenes pädagogisches Angebot: Die Zirkuspädagogik versucht Kindern und Jugendlichen aus sozial schwierigen Verhältnissen anhand von Zirkusdisziplinen wie Artistik oder Akrobatik Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl zu verleihen. Auch hier ist derzeit kein Proben- oder Aufführungsbetrieb möglich. Volker Traumann, Leiter des Zirkus Giovanni, blickt mit Sorge auf den Zirkus.
Herr Traumann, in welchem Zustand befindet sich der Zirkus Giovanni nach einem Jahr Pandemie und mehreren Lockdowns?
Volker Traumann: Tatsächlich setzt uns die Covid-19-Situation sehr zu. Aufgrund der wiederkehrenden Lockdowns seit März 2020 konnten wir im vergangenen Jahr mit unseren Angeboten nur 750 junge Menschen erreichen. Im Jahr zuvor waren es noch über 2.000 Kinder und Jugendliche. Hinter diesen Zahlen verbirgt sich ein ernstzunehmender Trend. Zum einen erlebten viele Kinder und Jugendliche in Deutschland das vergangene Jahr als Zeit mit deutlichen Zugangsbeschränkungen zu für sie wichtigen Bildungs‑, Beziehungs‑, Freizeit- und Hilfserfahrungen, die für eine gelingende Sozialisation in diesem Alter zentral und notwendig sind. Zum anderen geraten soziale und kulturelle Anbieter wie der Zirkus Giovanni zunehmend in Existenzgefahr. Bei annähernd gleichbleibenden Grundkosten entstand uns im letzten Jahr ein Defizit von 40.000 Euro an Teilnehmerbeiträgen. Die Sorgen sind entsprechend groß.
Inwieweit waren Zirkusbetrieb und Aufführungen im Zelt am Teufelsgraben 2020 möglich?
Volker Traumann: In den lockdownfreien Zeiten konnten wir unter strikter Einhaltung der Corona-Bestimmungen eingeschränkt Zirkusangebote und Aufführungen durchführen. Viele Zirkusdisziplinen, wie die Akrobatik, leben jedoch vom direkten Körperkontakt. Auch unsere Pädagogik lebt von Nähe und Familiarität. Die Kinder und Jugendlichen sollen den Zirkus Giovanni als sicheren und vertrauten Ort erleben, als Raum für Begegnung, Beziehung und gemeinsamer Interaktion. Dieses Konzept ließ sich unter Corona-Bedingungen nur erschwert umsetzen.
Als Einrichtung des Bamberger Don Bosco Jugendwerks fördert der Zirkus Giovanni im zirkuspädagogischen Bereich sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche. Was konnten Sie in diesem Zusammenhang 2020 tun?
Volker Traumann: Vor allem während des Schul-Lockdowns von März bis Anfang Juni ergab sich eine einzigartige Möglichkeit. Zwanzig Kinder und Jugendliche aus den therapeutischen Wohngruppen des Don Bosco Jugendwerks suchten eine Bildungsheimat. Durch den Corona-Lockdown und den Wegfall des vertrauten und wichtigen Tagesrhythmus´ aus Schule, Hausaufgabenzeit und Freizeit entstand ab 17. März eine große Unsicherheit bei den jungen Menschen. Wo soll ich lernen? Wer ist für mich da? Wer betreut mich anstatt der Lehrer? Als Lösung entstand ein deutschlandweit einzigartiges Projekt.
Die Kinder und Jugendlichen besuchten elf Wochen lang anstatt der Schule jeden Morgen den Zirkus Giovanni. Auch hier wurde gelernt: Vertrauen aufbauen bei gemeinsamen Pyramiden, Ängste überwinden auf dem Nagelbrett, Höhenflüge erleben auf dem Trampolin. Gleichzeitig wurden die Kinder zum Filmteam: Als Regisseure, Kameraleute und Moderatoren drehten sie einen Film über ihr Projekt. Im Juni konnten die Kinder und Jugendlichen gestärkt und mit neuer Lernmotivation zurück in die Schule kehren.
Wie sieht Zirkuspädagogik beim Zirkus Giovanni generell aus?
Volker Traumann: Im Mittelpunkt unseres Denkens und Handelns steht nicht die Artistik, sondern der Mensch. Gerade für Kinder und Jugendliche, insbesondere für junge Menschen mit Handicaps oder belastenden Biographien, bietet die gemeinsame Zirkusarbeit eine Zeit der Stärkung und Kompensation. Kinder mit eingeschränktem Selbstwertgefühl erleben sich auf einmal als stark, Herausforderungen als bewältigbar und schwierige Situationen als beherrschbar und veränderbar. Wir erleben auf vielfache Weise, wie die jungen Menschen neuen Lebensmut schöpfen und sich zum Beispiel Lethargie oder Selbstzweifel in Tatendrang wandeln. Beim gemeinsamen Inszenieren, Diskutieren, Organisieren, Planen und Gestalten mit anderen Artisten lernen die jungen Menschen gleichzeitig ganz viele Soft-Skills und soziale Kompetenzen, die sie für ihren weiteren Lebensweg fit machen. Um dies umzusetzen, arbeiten wir in Kleingruppen und achten darauf, dass unsere Trainerinnen und Trainer die Individualität jedes Kindes berücksichtigen und ihm passgenaue Lernschritte, Inhalte und Lernerfolge vermitteln. Bei den sozialen Interaktionen halten wir uns als Erwachsene zurück und geben den jungen Menschen möglichst viel Raum, um in der Gruppe Dinge auszuhandeln und Erfahrungen zu sammeln. Die Kinder entscheiden kreativ über alle Fragen der Inszenierung wie Kunststücke, Kostüm, Musik, Ablauf.
Sie fördern auch psychosoziale Kompetenzen.
Volker Traumann: Jeder junge Mensch sammelt im Idealfall in seiner Sozialisation eine Vielfalt an positiven Erfahrungen, die sein Ich stärken. In seinem Innersten kommt er zu der nachhaltigen Erkenntnis: Ich bin eine wertvolle Person mit vielen Fähigkeiten. Ich kann anderen vertrauen und es gibt Menschen, die mich mögen und die mir helfen. Ein Mensch, der reich an diesen Erfahrungen ist, wird im Leben seltener scheitern und auch schwierige Situationen versuchen aktiv und kreativ zum Positiven zu verändern. Zu den psychosozialen Kompetenzen zählen wir zum Beispiel die Fähigkeit, eigene Stärken zu erkennen und an sich zu glauben, Krisen und Konflikte zu meistern, Dinge selbstständig in die Hand zu nehmen, Aufgaben mit Spaß und Motivation anzupacken, eigene Ziele für die Zukunft zu entwickeln oder gemeinsam mit Anderen Aufgaben zu lösen.
Wie unterscheidet sich die Zirkuspädagogik von anderen pädagogischen Angeboten?
Volker Traumann: Ich kenne wenig Freizeit- und Bildungsangebote mit einer ähnlichen Offenheit und Flexibilität, um den Bedürfnissen jedes einzelnen Kindes gerecht zu werden. Betritt ein Kind unser Zirkuszelt kann es aus einer unglaublichen Vielzahl an Zirkusdisziplinen, Übungsformen und Requisiten auswählen: Akrobatik, Jonglage, Aerial-Ring, Trapez, Feuerartistik, Fakir-Künste, Trampolin, Einrad, Stelzen, Kugelbalance, Drahtseil, Vertikaltuch, Theater, Clownerie, Musik, Skateboard, Licht- und Tontechnik und mehr. Geübt werden kann allein, zu zweit, mit vielen. Allein im Bereich der Jonglage gibt es über zwanzig Requisiten und sicherlich über 1.000 Spiel- und Übungsmöglichkeiten. Zirkus gibt uns die Chance, aus all diesen Möglichkeiten für jedes Kind das passende auszuwählen, ein sensibles Trainingsgeschehen zu entwickeln und für jeden jungen Menschen Erfolgserlebnisse zu garantieren.
Besteht die Gefahr, dass sich das Don Bosco Jugendwerk den Betrieb des Zirkus’ in Zukunft nicht mehr leisten kann?
Volker Traumann: Seit dem Start mit unserem großen Viermaster-Zelt 2005 im Teufelsgraben haben wir immer wieder mal große Finanzierungssorgen gehabt, zumal wir bisher keine öffentliche Regelförderung bekommen. Auch von der Stadt Bamberg haben wir in diesem Jahr noch kein positives Signal für eine Förderung bekommen. Die derzeitige Situation übertrifft alles Bisherige. Aktuell hoffen wir noch auf eine Zuwendung aus dem „Neustart Kultur“-Fördertopf für Zirkusprojekte. Dort sind jedoch derzeit alle Gelder ausgeschöpft und die Bundesregierung konnte sich bisher noch nicht zu einer Aufstockung dieses Fördertopfes durchringen. Wir sind dringend auf jede Spende angewiesen. Weitere Infos findet man auf unserer Homepage.
Mit welchen Gefühlen und Hoffnungen blicken Sie in die kommenden Monate?
Volker Traumann: Auf der einen Seite bangen wir um unsere Zukunft, auch finanziell. Auf der anderen Seite verfolgen wir täglich das Corona-Geschehen und schauen hoffnungsvoll auf die warme Jahreszeit, in der wir uns eine Rückkehr zu einem annähernd normalen Zirkusbetrieb erhoffen.
Zirkus Giovanni
Jakobsplatz 15
96047 Bamberg
https://www.zirkus-giovanni.de/
Spendeninformationen
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