Seit letztem Jahr versucht Maria S. Becker, der ehemaligen jüdischen Bevölkerung von Scheßlitz und seiner beiden Ortsteile Demmelsdorf und Zeckendorf anhand von Vorträgen und Führungen Sichtbarkeit zu verleihen. Nun möchte sie das Erinnerungsprojekt „ZeDeSch“ mit der Verlegung von 32 Stolpersteinen abschließen und der Erinnerung gleichzeitig eine bisher fehlende jüdische Perspektive geben.
Stolpersteine gelten als das größte nichtzentrale Mahnmal der Welt. Die etwa zehn mal zehn mal zehn Zentimeter messenden Würfel wurden bereits einhunderttausendfach in Straßen und Gehwegen Deutschlands und zusätzlich in mehr als 30 Ländern Europas verlegt.
Allesamt gedenken sie Opfern des Nationalsozialismus. Oft findet man sie im Pflaster vor Wohnhäusern eingelassen, aus denen Menschen von der NS-Diktatur verschleppt wurden. Auf ihren messingbeschlagenen Oberseiten sind die Namen dieser Menschen, ihre Geburtsdaten und oft tödlichen Schicksale eingeprägt. Der Urheber der Stolpersteine und Initiator dieses Gedenkprojekts ist der Berliner Künstler Gunter Demnig, der 1992 den ersten Stein verlegte. In Zeckendorf, Demmelsdorf und Scheßlitz im nördlichen Bamberger Landkreis werden nun 32 weitere Stolpersteine zum europaweiten Mahnmal hinzukommen.
Sichtbarkeit für die ehemalige jüdische Bevölkerung
Eine große jüdische Gemeinde lebte bis in die 1940er Jahre hinein in Scheßlitz und seinen beiden Ortsteilen Demmelsdorf und Zeckendorf. Mit ihren Synagogen, einem Rabbinat und einer zeitweiligen jüdischen Bevölkerungsmehrheit handelte es sich um überregional bedeutsame jüdische Zentren.
Bis 1942 hatte die nationalsozialistische Diktatur alle Jüdinnen und Juden der drei Orte jedoch entweder ermordet oder zur Flucht gezwungen. Heute erinnern lediglich der Zeckendorfer jüdische Friedhof und ein in den 1990er Jahren aufgestellter Gedenkstein an der Straße zwischen Demmelsdorf und Zeckendorf an diese Menschen.
Dieses unzureichende Gedenken versucht die Pädagogin und Musikerin Maria S. Becker, seit einigen Jahren zu vergrößern. Begonnen hat sie – unter tätiger organisatorischer Mithilfe der VHS Bamberg Land und ihres Leiters Joachim Schön – im Jahr 2021. In diesem Jahr beging das ganze Land das Jubiläum „1700 Jahre jüdisches leben in Deutschland“.
Beim organisierenden, gleichnamigen Kölner Verein konnten sich Organisationen, Städte oder Kommunen damals um Förderung für entsprechende Projekte bewerben. So gelang es Becker, Rebekka Denz von der Universität Bamberg und der VHS-Bamberg Land, verschiedene Veranstaltungen, Konzerte oder Vorträge von Autoren wie Ronen Steinke oder Max Czollek in Bamberg auf die Beine zu stellen.
Als das „1700 Jahre“-Jahr vorbei war, wollten Becker und Schön darum aber nicht mit derartigen Veranstaltungen aufhören. „Also dachten wir“, sagt Maria S. Becker, „jetzt, wo wir so viel angestoßen haben, wollen wir auch Nachhaltigkeit. Diese ist gut, bei allem, was man tut, auch bei politischer und Aufklärungsarbeit.“
Projekt „ZeDeSch“
Also entwickelte Maria S. Becker weitere Vorträge und Führungen über die jüdische Geschichte Bambergs und des Landkreises. Diese Arbeit fand Anfang dieses Jahres einen vorläufigen Höhepunkt mit dem Projekt „ZeDeSch“. Akronymisiert steht der Name für Zeckendorf-Demmelsdorf-Scheßlitz, das Projekt für mehr beziehungsweise überhaupt Sichtbarkeit und Gedenken für die ehemalige jüdische Bevölkerung der drei Orte.
„Gerade im Rahmen des „1700 Jahre“-Jahres“, sagt Joachim Schön, „haben wir sehr viele Erkenntnisse darüber gewonnen, was für ein unglaublich reiches und starkes jüdisches Leben es in Bamberg und in vielen Orten des Landkreises gab. Dieses wurde dann aber ausgelöscht und heute fehlt die Erinnerung daran.“ In anderen Regionen des Landes ist man längst viel weiter im Gedenken an die Ermordeten oder Deportierten. „Wir in Bamberg und Umgebung haben da noch einiges nachzuholen.“
Also recherchierten Maria S. Becker und Joachim Schön, wo im Landkreis besonders viele Jüdinnen und Juden gelebt hatten. „Wir hätten zum Beispiel auch Aschbach südlich von Ebrach nehmen können“, sagt Becker. „Aber als ich eines Tages mit einer Freundin und ihrem Hund in Demmelsdorf spazieren ging und an einem Gebäude Mesusalöcher entdeckte, begann ich genauer hinzuschauen, wer dort früher lebte.“ Bei einer Mesusa handelt es sich um eine kleine Kapsel, die in traditionellen jüdischen Häusern an Tür- oder Fensterrahmen angebracht ist und ein kleines handgeschriebenes Pergament enthält, auf dem ein Bibelzitat steht. Befestigt werden die Kapseln unter anderem mit Schrauben, die entsprechend Schraubenlöcher nötig machen. Verbindungen an die Universität Bamberg und Einsicht in die Stadtarchive von Scheßlitz und Bamberg, in das Staatsarchiv Bamberg, das Arolsen Archiv oder in die Dokumentensammlung der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem gaben Maria S. Becker in der Folge Aufschluss über die früheren Bewohner:innen der Gebäude.

Tag der Verlegung am 14. Oktober
So entstanden für „ZeDeSch“ weitere Vorträge und Führungen – inklusive Spenden. Anhand dieser wird Becker das Projekt nun abschließen können und in den drei Orten Stolpersteine für 32 Menschen verlegen. Eine Möglichkeit, die allerdings nicht allen, die diese Steine verlegen wollen, zuteilwird. Denn zuerst muss man sich die Erlaubnis der jeweiligen Gemeinden einholen. „Gemeinden sind dazu nämlich nicht verpflichtet“, sagt Maria S. Becker, „und können Bedingungen stellen. Scheßlitz hat aber keine gestellt und sofort, in Person des Bürgermeisters Roland Kauper, zugestimmt. Das ist ein klares Statement.“
Dann gilt es, einen entsprechenden Antrag bei Gunter Demnig und seiner Stolperstein-Stiftung zu stellen und anhand zweifelsfrei recherchierter biografischer Daten die Identität derjenigen, derer mit den Steinen gedacht werden soll, zu beweisen. Und dann braucht man noch das richtige Timing. Denn auf der Homepage der Stiftung heißt es derzeit, dass vor 2025 keine weiteren Verlegungen möglich sind. Der Grund ist: Demnig lässt es sich trotz seiner mittlerweile 77 Jahre nicht nehmen, bei Erstverlegungen die Steine selbst in den Boden einzusetzen.
Maria S. Becker, ausgestattet mit allen nötigen Informationen, und Gunter Demnig waren sich aber rechtzeitig einig. „Ende August hat er die Steine nun hergestellt“, sagt sie, „und bringt sie am Tag der Verlegung mit. Der Termin dafür ist der 14. Oktober.“
Ablauf in Würde
Der Beginn der Stolpersteinverlegung ist für 9 Uhr in Scheßlitz geplant. In der Woche zuvor wird das Straßenbauamt bereits die nötigen Löcher ins Pflaster des Gehwegs vor der Hauptstraße 1 gehämmert haben. Dann kann der angereiste Gunter Demnig die ersten Steine des Tages einfügen. Diese werden Kathi, Ludwig, Berthold-Karl und Semi Hausmann, die 1940 ermordet wurden, gewidmet sein.
Weitere Stolpersteine erhalten im Lauf des Vormittags die Familie Rollmann, ebenfalls aus Scheßlitz, die Familien Wurzinger, Mannheimer, Heimann und Berg aus Demmelsdorf sowie die Familien Gerst, Rosenbaum und Hausmann aus Zeckendorf.
Die Zahl von 32 Steinen entspricht aber natürlich nicht annähernd der Anzahl an Juden und Jüdinnen, die in den 1940er Jahren aus den drei Orten vertrieben und verschleppt wurden. Darum hat sich Maria S. Becker auf Personen konzentriert, von denen sie in ihrer Recherchearbeit nachweisen konnte, dass ihre Familien teilweise bereits seit hunderten Jahren dort gewohnt hatten, aber heute im allgemeinen Gedächtnis der dortigen Bevölkerung nicht mehr präsent sind. „Wenn man mit der Bevölkerung spricht, tauchen ihre Namen nicht auf und sind in Vergessenheit geraten. Ich wollte Leute ans Licht holen, an die sich trotz ihrer Verwurzelung, niemand mehr erinnert.“
Um 12 Uhr des 14. Oktobers soll eine Gedenkfeier im Zeckendorfer Gemeindehaus den offiziellen Teil der Verlegung beschließen. Eingeladen sind unter anderem Vertreter:innen jüdischer Gemeinden, der Historiker Andreas Ulmann, der in Bamberg selbst bereits Stolpersteinverlegungen initiiert hat, Landrat Johann Kalb, Bayerns Antisemitismus-Beauftragter Ludwig Spaenle und Patrick Nitzsche, in gleicher Funktion für die Stadt Bamberg tätig. Wer möchte, kann sich später um 13 Uhr außerdem zu einem Empfang in der Mittelschule Scheßlitz einfinden.
Damit bei diesem eng getakteten Ablauf aber nicht die nötige Würde und Feierlichkeit zu kurz kommt, fügen Maria S. Becker und Joachim Schön jeder Station der Verlegung einen kulturellen Rahmen hinzu. Zu jeder der 32 Personen werden Daten genannt und bei manchen auch Fotografien gezeigt, außerdem gestalten Schüler:innen der Musikschule Stadt und Land, der Chor der Scheßlitzer Mittelschule und Studentinnen der Universität Bamberg die Verlegung mit. Susanne Talabardon und Keren Presente von der Judaistik der Universität Bamberg und Frau Becker werden ihrerseits Musik beisteuern, genau wie Michael Hamann, Mitglied der Bamberger Symphoniker. Und ansonsten sagt Becker: „Der Ablauf klappt, ich kann gut organisieren.“

Unangenehme Wahrheiten
Bei der Gedenkfeier hat Maria S. Becker zudem vor, eine Rede zu halten und ein paar unangenehme Wahrheiten anzusprechen. Dabei möchte sie näher auf den bereits erwähnten Umstand der Vergessenheit eingehen, in die die ehemaligen jüdischen Bürger:innen der „ZeDeSch“-Orte geraten sind. Beziehungsweise auf die völlig fehlende jüdische Perspektive in Erzählungen über das Zusammenleben von jüdischen und nicht-jüdischen Bevölkerungsteilen während der Zeiten vor und nach der Naziherrschaft. Denn 1946 war es aufgrund der großen jüdischen Vorkriegsgemeinden dazu gekommen, dass in Scheßlitz und Zeckendorf kurzzeitig wieder Jüdinnen und Juden lebten. Denn die US-Armee hatte zwei Kibbuzim eingerichtet, in denen Shoaüberlebende aus dem Osten für einige Monate eine Wohnstätte fanden.
„Bei Begehungen für die Verlegung der Stolpersteine sprach ich mit verschiedenen Leuten aus den drei Orten, auch mit Zeitzeugen“, sagt Maria S. Becker über diese Zeiten von vor mehr als 80 Jahren. „Dabei hatte ich oft den Eindruck, dass die Fakten, die sie mir vermittelten, einst aus der Täterperspektive heraus entstanden sein müssen. Natürlich kann es nicht anders sein, aber in diesen Berichten gab es keine jüdische Perspektive mehr.“
So sei ihr immer wieder erzählt worden, wie harmonisch das Zusammenleben der beiden Bevölkerungsgruppen in der Zeit vor den Nazis stets gewesen sei. Dies habe sich bei ihren Recherchen zwar durchaus auch ein ums andere Mal wieder bewahrheitet. Gleichzeitig stieß Becker aber auch immer wieder auf Hinweise auf antisemitische Diskriminierung oder Übergriffe. Zwischenfälle, die über die Jahrzehnte aber in Vergessenheit gerieten und die sich in den heutigen Erzählungen über jene Zeiten entsprechend nicht gehalten haben. „Die örtliche Gesellschaft hat sich auf eine Art und Weise entwickelt, dass eigene Erzählungen entstanden sind, weil es eben keine Gegenstimmen mehr gab. Das ist nur logisch, aber das sind eben auch die Erzählungen, die heute gelten. Was mir in meiner Arbeit und in den Begegnungen also nochmal deutlich aufgefallen ist: Wir brauchen einen komplett anderen Blick auf diese Geschichten und zwar einen jüdischen.“
Ein Unterfangen, bei dem Maria S. Becker aber auch die jüdische Seite in die Pflicht nehmen will. „Als ich Anfang des Jahres für die „ZeDeSch“-Vorträge recherchierte, hatte ich noch nicht den klaren Überblick wie heute, ich sammelte noch. Heute sage ich aber, und da fordere ich auch die jüdische Community auf: Man hat sich zu sehr angepasst, es muss mehr Klartext geredet werden.“
Allerdings fügt Joachim Schön an, dass dieser Klartext in Beckers Vorträgen bereits durchaus den Ton bestimmt – und nicht ohne Erfolg. „Die Vorträge und Führungen in Demmelsdorf und Zeckendorf gehören zu den bestbesuchtesten Veranstaltungen, die wir im letzten VHS-Semester hatten. Teilweise nahmen 100 Leute teil. Dieser Zuspruch könnte zwar auch im Bereich eines Wohlfühlgedenkens liegen, aber Interesse ist da. Und da kann man die Leute auch mal konfrontieren.“