Vom 13. bis 28. Mai ist das ETA Hoffmann Theater Ausrichter der 38. Ausgabe der Bayerischen Theatertage. Ein Blick auf das Programm und den Auswahlprozess für das Festival mit ETA-Intendantin Sibylle Broll-Pape und der Sprecherin des Auswahlgremiums, Victoria Weich.
Die Bayerischen Theatertage, Bayerns größtes Theaterfestival, finden 2022 zum siebten Mal in Bamberg statt. Mehr als 30 Inszenierungen verschiedenster bayerischer Theater hat das Auswahlgremium um Victoria Weich, Leitende Dramaturgin am ETA Theater, nach Bamberg eingeladen.
Im so gewonnenen Programm spiegelt sich die Vielfalt bayerischer Theater, zahlreiche Themen gesellschaftlicher Missstände und aktueller Entwicklungen wider. Im umfangreichen Rahmenprogramm steht die Freude über die Aussicht, wieder 100 Prozent Publikumsauslastung haben und ausgelassen feiern zu können, im Vordergrund. Wir haben mit Sibylle Broll-Pape und Victoria Weich gesprochen.
Frau Broll-Pape, vor einigen Wochen haben Sie zur Eröffnung der Bayerischen Theatertage eine rauschende Eröffnungsfeier angekündigt. Auf was kann sich das Publikum einstellen?
Sibylle Broll-Pape: Darauf, dass man endlich wieder in der Gemeinschaft sein und miteinander feiern kann! Ich muss allerdings sagen, dass die damalige Pressekonferenz vor einem anderen Hintergrund stattfand. Damals gab es noch keinen Krieg in Europa. Jetzt sind wir durch den Angriffskrieg mit einer desaströsen Situation konfrontiert und uns stellte sich die Frage, ob wir das Festival, so wie wir es geplant hatten – mit Feiern und Tanz– vor der neuen Situation überhaupt veranstalten sollten. Wir haben innegehalten und uns entschieden, nicht zurückzuschrecken. Deshalb wird es ein rauschendes Eröffnungsfest mit zahlreichen Gästen, der einladenden Live-Musik von vier Jazz-Musikerinnen um Sängerin Johanna Schneider, eigens gebrautem Festivalbier und viel Vorfreude auf die Festivalzeit geben.
Wird der Krieg in der Ukraine in der einen oder anderen Form ins Festival-Programm eingehen?
Sibylle Broll-Pape: Ja, da sind wir dran, man kann ja gar nicht anders. Wie man als Theater auf so eine Situation aber richtig reagiert, ist nicht ganz einfach zu beantworten.
Ließe sich spontan ein weiteres Stück, eines mit Kriegsthematik, ins Programm aufnehmen?
Sibylle Broll-Pape: Nein, das geht nicht – zumal wir mit „Gott ist nicht schüchtern“ ein Stück mit verwandter Thematik im regulären Spielplan haben. Außerdem ist das Programm eine kuratierte Angelegenheit, in die wir nicht noch etwas reinpflanzen möchten. Wir haben für die Auswahl nach speziellen Formen und besonderen Inhalten gesucht. Und da zu dem Zeitpunkt, als wir kuratierten, Krieg in dieser Form nicht allgegenwärtig war, war das Thema kein Kriterium der Auswahl. Das im Nachhinein noch zu verändern, wäre falsch.
Zur Eröffnung inszenieren Sie die Uraufführung der Auftragsarbeit „Kängurus am Pool“ von Theresia Walser. Darin geht es im weitesten Sinne um eine Hausgemeinschaft wider Willen. Bestehen darin aktuelle Bezüge?
Sibylle Broll-Pape: Durchaus hat das Stück etwas mit der pandemischen Situation der letzten beiden Jahre zu tun hat. Es steht zwar nicht Corona drauf oder drin, aber vieles, das uns als Gesellschaft beschäftigt hat, ist spürbar. Die Vereinzelung zum Beispiel, der Umgang mit Alten und vor allem der Humor, mit dem wir Menschen Widrigkeiten begegnen können.
Victoria Weich: Die Leute, die in diesem Haus leben, sind ganz unterschiedlich. Es gibt zum Beispiel den Paketboten, der immer die merkwürdigsten Dinge die Treppe rauf schleifen muss. Ein Hinweis auf die Realität, die wir in den letzten beiden Jahren hatten: geschlossene Geschäfte, überforderte Niedriglöhner. Eigentlich ist er von Beruf Hornist – ein weiterer Verweis, hier auf den Kulturbetrieb, in dem er nicht mehr auftreten kann. Theresia Walser findet zu diesen Figuren einen humorvollen Zugang. Der Paketbote zum Beispiel attestiert einem Hausbewohner eine „Bläserschnute“, er hätte wirklich „was erreichen können mit so einem Posaunenmaul“ – anstatt jetzt ominös viel Katzenstreu zu bestellen.
Bei der Vorstellung des Festival-Programms sagten Sie, Frau Weich, dass das Auswahlgremium, um Programm-Stücke zu finden, monatelang von Theater zu Theater reiste. Was ließ sich dabei über bayerische Theater lernen?
Victoria Weich: Viel – vor allem über Bayern selbst. Dass es ein Flächenbundesland ist, ist mir erst in den Regionalzügen des Landes so richtig klargeworden (lacht). Man lernt, dass es in der größten, aber auch in der kleinsten Stadt tolle Qualität gibt, denn die Größe sagt erstmal nichts darüber aus, wie gut und mit welcher Leidenschaft Kunst gemacht wird. Außerdem haben wir mitten in der Hochphase der Einschränkungen gesichtet, in Zeiten von 25-prozentiger Publikumsauslastung. Uns ist schmerzlich vor Augen geführt worden, wie existenzbedrohend diese Bedingungen waren.
Wie geht es den bayerischen Theatern entsprechend heute?
Victoria Weich: Da kann ich nur mutmaßen. Dort, wo es treues Publikum und Fangemeinden gibt, war es für die Theater einfacher zu überleben. Dort, wo Theater einen schwereren Stand in der Freizeitgestaltung hat, war die Pandemiezeit anstrengender. Der Mut ist aber auch bei jenen, die es schwerer hatten, nie abgeschlafft.
Wie geht es dem ETA Hoffmann Theater?
Victoria Weich: Ich finde, es ging uns während der ganzen Zeit verhältnismäßig gut.
Sibylle Broll-Pape: Genau. Aber wir merken schon, dass die Leute im Augenblick noch etwas zurückhaltend sind. Das ist bei den aktuellen Inzidenzen aber auch kein Wunder. Betrachtet man die letzten zwei Jahre, ist unser Publikum immer in dem Moment, in dem wir wieder öffnen oder mehr anbieten durften, in großer Zahl wiedergekommen. Das war schon toll. Wir sind eines der Theater mit sehr treuem Publikum.
Nach welchen Gesichtspunkten haben Sie die Auswahl der Stücke, die bei den Theatertagen gezeigt werden, getroffen?
Victoria Weich: Für uns waren Leitfragen wichtig wie: Vermittelt sich grundsätzlich die Thematik, die das Stück behauptet? Wird die Thematik in einer Art und Weise vermittelt, die den Horizont erweitert, anregt, im positiven oder negativen Sinne? Geschieht das auf einem guten oder hohen künstlerischen Niveau? Denn es geht nicht um Geschmack, ob uns vom Auswahlgremium ein Stück gefallen hat. Zudem ist die Spiellust oder das Engagement auf der Bühne wichtig gerade auch bei kanonischen Texten: Gibt es einen neuen Zugriff? So hangelt man sich von Kriterium zu Kriterium. Und letztendlich haben wir uns gefragt: Ist es für Bamberg eine Bereicherung, etwas, das wir hier so noch nicht gesehen haben? Die Idee der Bayerischen Theatertage ist ja auch, in der gastgebenden Stadt Formen und Themen stattfinden zu lassen, die das eigene Programm bereichern und erweitern. So ist es toll, dass performative Formate, das Digitale, Musiktheater und Theater für Kinder und Jugendliche ihren Platz haben werden.
Das Stück „Die Reise der Verlorenen“ vom Theater theaterlust aus Haag handelt von einem Schiff voller Geflüchteter zu Zeiten des 2. Weltkriegs, das kein Hafen aufnehmen will. Was qualifizierte dieses Stück für das Festivalprogramm?
Victoria Weich: Wenn ein Romancier wie Daniel Kehlmann einen Theatertext schreibt, ist historische Wahrhaftigkeit gesetzt. Das hat uns bei dem Thema Geflüchtete sehr gereizt. Seine Sprache hat in der Inszenierung einen wunderbaren Raum bekommen. Außerdem ist das Theater theaterlust ein freies, tourendes Theater, das sich viel vorgenommen hat mit dem Stück. Wir finden es zeigenswert, dass so wichtige Stoffe von Gegenwartsautoren eben nicht nur an etablierten Häusern stattfinden können, sondern auch ganz wunderbar in freien Gruppen.
Das Stück passt auch zur aktuellen Fluchtthematik. War das auch ein Grund, es auszuwählen?
Victoria Weich: Klar. Wir müssen immer wieder in die Literatur schauen und sie befragen, was sie uns über heutige Probleme sagen kann. Das löst die Probleme natürlich nicht, aber es erzählt uns etwas darüber, was wir für einen historischen Rucksack tragen und welche Verantwortung. Sie möge uns Hinweise darauf geben, wie wir zum Beispiel heute mit Geflüchteten empathisch und hilfsbereit bleiben können, uns erinnern, dass jeder Flüchtling einen Anspruch auf Asyl hat.
Aktuell ist auch die Thematik der Komödie „Status Quo“, die das Theater Hof beisteuert. Es geht um Diskriminierung, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen, denn das Stück spielt in einer Welt, in der Männer die Opfer von Diskriminierung sind und nicht Frauen.
Victoria Weich: Ja, alles ist umgekehrt und man sieht, dass es natürlich trotzdem falsch ist. Diskriminierung ist immer falsch. Im Stück wird augenfällig, dass Sexismus strukturell misogyn ist und ich kann über das Lachen verstehen, wie verrückt das eigentlich ist: Menschen wegen ihres Geschlechts schlecht behandeln. Absurd, oder? Es gibt eigentlich gar keinen Grund.
Ein düsteres Thema zeigt die Kulturbühne Spagat München mit „Kitzeleien – Der Tanz der Wut“, nämlich Kindesmissbrauch.
Victoria Weich: Der Solo-Abend der Schauspielerin erzeugt großen Respekt davor, dass eine Missbrauchs-Geschichte erzählt wird. Sie verhandelt ihre Erfahrungen mit sich selbst und dem Publikum. Da steckt eine große, sehr berührende Bereitschaft zur Offenbarung drin. „Absolut überraschend und manchmal sogar komisch“, sagte mein Kollege aus dem Auswahlgremium, Christoph Leibold.
Ebenfalls ernsten Stoff bietet „Butterfly Brain“ vom Nürnberger Theater Curtis & Co. dance affairs. Es geht um Demenz.
Sibylle Broll-Pape: Schwere Stoffe können auch in leichten Stücken wie „Butterfly
Brain“ ausgedrückt werden. Dafür stehen auch wir als Haus sehr. Ich finde, dass man
inhaltlich etwas zu sagen haben muss und dafür gibt es unterschiedliche Formen. Es sind schwere Themen, aber auf eine Art und Weise gemacht, dass man damit umgehen mag und nicht gleich abgeschreckt ist.
Trotzdem könnte man den Eindruck gewinnen, dass die Stücke auch unter dem Gesichtspunkt ausgewählt wurden, möglichst viele aktuelle Debatten zu bedienen. In „Bestätigung“ vom Staatstheater Nürnberg geht es um einen Linken, der versucht, einen Holocaustleugner zu überzeugen, in „4.48 Psychose“ vom Metropoltheater München um Depressionen.
Victoria Weich: Natürlich wollen wir aktuelle Debatten auf die Bühne bringen. Und zum Beispiel gerade der „Butterfly Brain“-Abend ist befreiend und glaubt an das Gute in den Dingen. Ich denke, das wird ein Abend sein, aus dem auch das Publikum sozusagen beflügelt rauskommt. Es geht auch darum, mit Situationen leichtfüßig und offenherzig umzugehen. „Bestätigung“ von Chris Thorpe wird auch kein schwerer Abend. Das Stück konfrontiert mit Vorannahmen und das ist oft auch zum Lachen: Wie schwer es ist, die eigenen Überzeugungen zu verlassen.
Was an der Auswahl auch auffällt: Mehrere Stücke haben nur eine oder zwei Personen auf der Bühne und kaum Bühnenbild. Ist das ein gestalterischer Theater-Trend?
Victoria Weich: Das hat jeweils unterschiedliche Gründe. Nehmen wir „Bestätigung“. Das ist so konzipiert, dass man am Anfang gar nicht weiß, ob das Stück schon läuft oder ob der Schauspieler privat mit einem redet. Das erfordert, dass es kaum merkliche Kulissen gibt. Ein reduziertes Bühnenbild oder Stücke mit kleiner Besetzung waren außerdem eine Möglichkeit für Theater, in den zurückliegenden Monaten weiter zu spielen, ohne zu große Kosten zu haben oder Infektionen des Personals zu riskieren. Pragmatische Gründe also, denn die Regularien für Theater waren sehr streng. Je kleiner das Stück, umso besser war es machbar. Es ist eine Überlebensstrategie, aber kein Trend.
Sibylle Broll-Pape: Zudem mussten wir uns bei der Stückeauswahl immer überlegen, wie viel Platz wir auf den Bühnen haben. Eine Oper passt bei uns nicht rein. Die opulenten Bühnenbilder können Sie nur in den großen Häusern sehen. Und wenn man dann schon reduzierte Stücke hat, sind die Stücke, die kaum Personal oder Dekoration auf der Bühne haben, oft die besten. Ein halbes Schloss als Kulisse will ja auch niemand sehen.
Das schließt die Frage aus, inwiefern bei der Auswahl der Stücke auf Größe oder Opulenz geachtet wurde.
Sibylle Broll-Pape: Man muss schlicht pragmatisch rangehen. Wir haben ja auch keine Ausweichspielstätten.
Drei Klassiker stehen auch auf dem Programm: „Cyrano de Bergerac“ vom Residenztheater München, „Peer Gynt“ vom Bamberger Theater im Gärtnerviertel und „Die Dreigroschenoper“ vom Theater Regensburg. Wiederum bei der Vorstellung des Festival-Programms sagten Sie, Frau Weich, dass auch Klassiker für Vergnügen sorgen können. Das klang ein bisschen abwertend.
Victoria Weich: Klassiker frisch und zeitgemäß auf die Bühne zu bringen, ist gar nicht so leicht. Während unserer Reisen – und das spiegelt sich auch in der Auswahl wider – ist uns aufgefallen, dass viele Theater mit den Gegenwartsstoffen besser zurechtkommen. Die Inszenierungen waren dringlicher, die Leidenschaft für ein Thema stärker. Die drei ausgewählten Klassiker haben jeweils ihre Besonderheiten. Der „Cyrano“ ist eine tolle Bearbeitung, mit zwei hervorragenden Schauspielern. „Peer Gynt“ ist gedacht und gemacht für Theater an ungewöhnlichem Ort und „Die Dreigroschenoper“ mit der ernsthaften Frage, welches Geschlecht das verführerischere Verbrechen hat, weil Mackie Messer mit einer Frau besetzt ist. Alles Zugriffe, die den Klassikern neues Leben geben – dann bereiten sie Vergnügen!
Die Theatertage bieten ein großes Rahmenprogramm. Am 15. Mai gibt es zum Beispiel einen Staffellauf fürs Klima, der vor dem Theater vorbeikommt. Laufen Sie mit?
Victoria Weich: Nein, wir beiden nicht (lacht). Das Ensemble muss ran. Es wird dazu auch noch ein Podiumsgespräch geben, das vom Ensemble in Kollaboration mit „Performing for Future – Netzwerk für Nachhaltigkeit in den Darstellenden Künsten“ organisiert wird. Mehr als 30 deutsche Theater sind beteiligt.
Was wird sonst noch geboten sein?
Victoria Weich: Es liest zum Beispiel am 17. Mai die Autorin Alice Hasters aus ihrem Buch „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“ und am 18. Mai gibt die experimentelle Musikerin TiNTiN PATRONE mit Posaune, Looper und diversen elektronischen Instrumenten ein Konzert, kuratiert von SOG – Innovative Musik aus Bamberg. Außerdem macht unser Ensemble ein Hip-Hop-Musical und wir werden ein Festivalzelt und zünftiges Bergfest haben. Wer sich in Dirndl oder Lederhosen kleidet, bekommt ein Freibier, natürlich die Festivalvariante.