Schauspieler Stephan Ullrich ist am ETA Hoffmann Theater der Mann für die ganz großen Werke der Weltliteratur. Für seine Lesereihe in der Treffbar des Theaters hat er sich bereits Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ und Thomas Manns „Der Zauberberg“ angenommen. Nun folgt mit James Joyces „Ulysses“, in der Übersetzung von Hans Wollschläger, der lange Jahre in Bamberg lebte, eines der komplexesten literarischen Werke des 20. Jahrhunderts. Wir haben mit Stephan Ullrich über die Faszination des „Ulysses“ und den Unterschied zwischen gutem und schlechtem Vorlesen gesprochen.
„Ulysses“ erzählt in 18 Kapiteln von einem Tag, dem 16. Juni 1904, im Leben des Dubliner Anzeigenverkäufers Leopold Bloom. An die Irrfahrten des Odysseus angelehnt beschreibt James Joyce nicht nur äußere Ereignisse, sondern auch innere Abläufe wie Gedanken der Figuren, Assoziationen und Erinnerungen. Peter Krauch, Dramaturgieassistent am ETA Hoffmann Theater, wird zu Beginn der Lesungen eine Einführung geben.
Um Corona-Hygiene-Bestimmungen gerecht zu werden, die Treffbar des ETA Hoffmann Theaters aber trotzdem möglichst vielen Personen öffnen zu können, wiederholt Stephan Ullrich jede für die Lesereihe ausgewählte Textpassage an separaten Terminen.
Herr Ullrich, warum haben Sie sich für die aktuelle Lesereihe James Joyces „Ulysses“ ausgesucht?
Stephan Ullrich: Es geht uns bei der Lesereihe darum, Literatur ans Publikum zu versenden, die eine gewisse Klasse hat und in der sich das Publikum sozusagen selbst wiederfinden kann – eine Lebensanleitung. Der Roman hat eine große Sprachfantasie und Sprachgewalt, er ist ein Gebirge. Außerdem hat Übersetzer Hans Wollschläger es geschafft, das Sprachgefühl des Originals zu übertragen. Für mich schwingen da die Rolling Stones, Jim Morrison und Frank Zappa mit. Es kommen in der Übersetzung unbekannte Worte vor, die nicht erklärt werden und sozusagen nur Vokale sind oder Konsonanten wie man sie in der Kneipe eben so weg rülpst, wenn man redet.
Außerdem passt „Ulysses“ sehr gut in heutige Zeiten. Der österreichische Schriftsteller Hermann Broch hat über „Ulysses“ geschrieben, der Roman habe das 19. Jahrhundert umgebracht – das halte ich für einen treffenden Satz. James Joyce hat eine Zeitenwende beschrieben.
Wie meinen Sie das?
Stephan Ullrich: James Joyce geht mit seinem Roman 1904 einen Tag lang durch Dublin und lässt uns erfassen, wie reich das Leben sein kann. Es ist wie ein Spaziergang mit Mikroskop, bei dem man durch seinen Lebensraum geht und schaut, wie es pulst, das Leben. Die Sprache, die Art und Weise, wie der Roman von Schauplatz zu Schauplatz springt, in all dem spiegelt sich unsere schnelllebige Zeit wider und zielt eigentlich schon sehr ins 21. Jahrhundert.
Stichwort Kneipe: In den Kapiteln, die in einer Gaststätte oder ähnlichem spielen, herrscht das ausgeprägte Stimmengewirr durcheinanderredender und durcheinanderdenkender Figuren. Wie werden Sie solche Passagen in der Lesung darstellen?
Stephan Ullrich: Was mir beim Arbeiten mit einem Text wichtig ist, ist, dass die Sprache einen Klang bekommt, zu dem das Publikum sagen könnte: „Ja, so könnte es klingen.“ Man muss immer das Gesamte und seine Stimmung im Auge behalten. Für eine Kneipenszene muss man Brüche spielen, also etwa eine trockene Stimme gegen eine hysterisch und gegen eine baritonale Stimme stellen. Dadurch entstehen Muster, die auf eine Kneipe hindeuten können.
Unterscheidet eine solche Herangehensweise einen guten von einem schlechten Vorleser?
Stephan Ullrich: Es gibt mittlerweile sehr viele Schauspieler, die Hörbücher einsprechen. Aber die lesen nur vor und es klingt wie in der Schule. Ich mache es mal vor (liest die ersten Zeile des ersten Kapitels von „Ulysses“ mit sonorer Stimme): Stattlich und feist erschien Buck Mulligan am Treppenaustritt, ein Seifenbecken in Händen, auf dem gekreuzt ein Spiegel und ein Rasiermesser lagen. So klingt ein Satz, in dem das Wort „stattlich“ vorkommt, um eine Figur zu beschreiben, die in dieser Szene so tut als sei sie ein Priester, der zu seiner Gemeinde spricht, lahm, linear und eins zu eins zum Text. Ich versuche, ins Gewebe des Textes vorzudringen.
Inwiefern spielt ein guter Vorleser den Text vor?
Stephan Ullrich: Es ist nah am Spielen, aber nur mit sprachlichen Mitteln und nicht mit Gesten oder so. Das würde den Rahmen sprengen, denn das Publikum muss ja folgen können. Ich versuche, den Leuten über die Sprache eine Musikalität anzubieten, die der Text enthält, seine Schönheit. Ich denke, die Leute sehnen sich nach Schönheit in dieser total verwalteten Welt. Wir sehnen uns danach, dass uns Schönheit anspringt – und wenn es durchs Ohr ist.
Eine etwas ketzerische Frage: Warum bezahlen Leute dafür, sich etwas vorlesen zu lassen?
Stephan Ullrich: Neben den Dingen, die ich versuche zu übermitteln, gibt es Untersuchungen, die besagen, dass das lesende Auge, wenn man beispielsweise still für sich liest, zu anderen Assoziationen des gelesenen Textes kommt als sie das gesprochene Wort in einer Lesung auslöst. Darin besteht ein Mehrwert.
„Ulysses“ ist knapp 1.000 Seiten lang. Werden Sie aus allen Kapiteln vorlesen und sollte das Publikum Vorkenntnisse des Romans haben?
Stephan Ullrich: Ja, ich werde Ausschnitte aus jedem Kapitel vorlesen, die Leute können aber zu jedem Termin der Lesereihe ohne Vorkenntnisse neu einsteigen. Die Passagen sollen einen guten Überblick über das Werk geben und auch anspornen zu lesen, was ich auslasse. Die Passagen sind Appetithäppchen oder Köder, ich bin der Menschenfischer.
Stephan Ullrich liest „Ulysses“
Treffbar, ETA Hoffmann Theater, jeweils 20 Uhr
27. Oktober, 10., 18. und 24. November, 8. und 22. Dezember