Aus­stel­lung „umarmt von der Welt“

her­man de vries: Aus­schnit­te aus der Wirklichkeit

7 Min. zu lesen
herman de vries
„in transit“, 2012
Den Stei­ger­wald, wo er seit 1970 lebt, nennt der Künst­ler her­man de vries sein Ate­lier. Dort sam­melt der 93-jäh­ri­ge Nie­der­län­der die Bestand­tei­le sei­ner Wer­ke: Äste, Blät­ter, Stei­ne, Tier­kno­chen, Erden oder klei­ne All­tags­ge­gen­stän­de. Die Wer­ke, die dar­aus ent­ste­hen, ent­zie­hen sich jeder Ein­ord­nung – wie die in ihnen dar­ge­stell­te Natur ste­hen sie ohne Bedürf­nis nach Selbst­er­klä­rung für sich selbst. Im Inter­view mit Kura­to­rin Katha­ri­na Win­ter­hal­ter haben wir trotz­dem den Ver­such einer Annä­he­rung an das nicht so leicht Erklär­ba­re bei her­man de vries unternommen.
herman de vries
her­man de vries (Foto: Katha­ri­na Win­ter­hal­ter) und Katha­ri­na Winterhalter
Frau Win­ter­hal­ter, war­um bedient sich her­man de vries grund­sätz­lich der Kleinschreibung?

Katha­ri­na Win­ter­hal­ter: Hin­ter­grund ist sei­ne Ableh­nung jeg­li­cher Form von Hier­ar­chie seit sei­ner Jugend. Schon als Kind hat­te er ein gro­ßes Bedürf­nis nach Frei­heit. Die Schu­le war ihm ein Gräu­el, er fühl­te sich ein­ge­sperrt. Die Klein­schrei­bung ist ein sicht­ba­res Zei­chen gegen die Hier­ar­chie in der Schrift. Es wäre schön, wenn Sie das bei sei­nem Namen, den Titeln sei­ner Wer­ke und dem Aus­stel­lungs­ti­tel über­neh­men könnten.

Was bedeu­tet der Aus­stel­lungs­ti­tel „umarmt von der welt“?

Katha­ri­na Win­ter­hal­ter: Vor ein paar Mona­ten, bei einem gemein­sa­men Spa­zier­gang im Wald, wur­de mir klar, was das The­ma der Aus­stel­lung sein wür­de: Was das Drau­ßen-in-der-Natur-sein für her­man de vries bedeu­tet, seit er als Kind mit sei­nen Eltern in den Dünen spa­zie­ren ging, näm­lich frei sein. Und wie es sein Leben und sei­ne Kunst beein­fluss­te. Bis heu­te erin­nert er sich an den Geruch von Salz und Meer, an die klei­nen Pflan­zen im Sand, den Him­mel über sich und dar­an, was die­se Erfah­run­gen in ihm aus­lös­ten. Er fühl­te sich als Teil der Natur. Die­ses Gefühl, sich drau­ßen frei zu füh­len, beglei­tet ihn bis heu­te. Der Titel „umarmt von der welt“ ist der Anfang eines Gedich­tes und beschreibt die­ses Emp­fin­den auf sehr poe­ti­sche Weise.

Nach wel­chen Gesichts­punk­ten haben Sie die Wer­ke die Aus­stel­lung aus­ge­wählt? Ist es eine Retrospektive?

Katha­ri­na Win­ter­hal­ter: Nein, es ist kei­ne Retro­spek­ti­ve, dazu feh­len doch eini­ge Berei­che sei­nes Schaf­fens. Wir haben Wer­ke aus­ge­wählt, in denen sich der Aus­stel­lungs­ti­tel wider­spie­gelt: Bil­der, Skulp­tu­ren, Foto­gra­fien und Instal­la­tio­nen aus dem Gar­ten, dem Wald und von Rei­sen in vie­le Län­der. Zum Bei­spiel ein fast vier Meter gro­ßer Kreis mit Blät­tern und Ästen aus dem Stei­ger­wald, Stei­ne aus aller Welt, grü­ne Erde aus Gome­ra, aus­ge­rie­ben auf ein gro­ßes Blatt Papier oder die Blät­ter eines Apfel­bau­mes, die nach einem Hagel­sturm 1978 auf der Erde lagen. Jedes auf eine ande­re Wei­se beschä­digt. Zum ers­ten Mal zu sehen ist das gut 90-teil­i­ge „jour­nal von bah­rain“. Ein Jour­nal ist eine Art Tage­buch über eine bestimm­te Zeit an einem bestimm­ten Ort, die­ses ent­stand 2020 für eine Aus­stel­lung im Natio­nal­mu­se­um von Bah­rain, die wegen Coro­na aber abge­sagt wer­den musste.

Was müs­sen so ein Blatt oder All­tags­ge­gen­stän­de, wie sie das „jour­nal“ zeigt, haben, dass de vries sie für sam­melns­wert hält? War­um hebt er den einen Ast auf und lässt den ande­ren liegen?

Katha­ri­na Win­ter­hal­ter: Das ist nicht leicht erklär­bar. Auch hier gibt es für her­man kei­ne Hier­ar­chie. Alle Blät­ter oder Äste sind für ihn gleich bedeut­sam, sind Teil des Gan­zen. Ich gehe mit ihm durch den Wald und oft weiß ich schon, was er sehen oder auf­he­ben wird. Aber das sagt nichts über den Wert der Din­ge, die er schließ­lich mit­nimmt, aus. Es sind sehr intui­ti­ve Momen­te. her­man sprach ein­mal von der Poe­sie des Augen­blicks. Dabei stellt sich natür­lich auch die Fra­ge, ab wann die­se Din­ge zur Kunst wer­den? In dem Moment, wenn er sie sieht, auf­hebt und mit nach Hau­se nimmt? In dem Moment, in dem er mit sei­ner Frau Susan­ne dar­über spricht oder in dem Moment, in dem er beschließt, sie zu zei­gen? Wir haben lan­ge dar­über gespro­chen und kei­ne end­gül­ti­ge Ant­wort gefun­den. Denn die Din­ge blei­ben ja, was sie sind, ob sie nun im Wald lie­gen oder im Muse­um an der Wand hängen.

Ver­sucht er, die Din­ge irgend­wie mit Bedeu­tung aufzuladen?

Katha­ri­na Win­ter­hal­ter: Nein, wie eben schon gesagt, die Din­ge ste­hen für sich. Die Natur spricht für sich. Natür­lich geht es auch um Ver­gäng­lich­keit, das ist bei vie­len Arbei­ten spür­bar. Aber man muss das nicht kom­pli­zier­ter aus­drü­cken. In der Ein­fach­heit kann eine gro­ße Schön­heit oder Poe­sie lie­gen. Dürer hat ein Rasen­stück gemalt, ein wun­der­ba­res Werk. her­man hat ein Rasen­stück aus­ge­schnit­ten, hat es getrock­net und gerahmt. Dann kann das Publi­kum ent­schie­den, ob es sich berüh­ren lässt oder nicht.

Etwa zum Beginn des 20. Jahr­hun­derts kam soge­nann­te Rea­dy-made Kunst auf, also Kunst, die Kunst ist, weil ihre Gegen­stän­de dazu erklärt wur­den. Ist das sei­ne Richtung?

Katha­ri­na Win­ter­hal­ter: Man kann einen Teil davon sicher als Rea­dy-made bezeich­nen, zum Bei­spiel die ein­ge­rahm­te Sichel, die zum „jour­nal von bah­rain“ gehört. Aber der Begriff steht auf kei­nen Fall für das gan­ze Werk.

Könn­te sein Ansatz dar­in bestehen, völ­lig unkünst­le­ri­sche Din­ge wie All­tags­ge­gen­stän­de zu neh­men, sie durch die Plat­zie­rung in einem künst­le­ri­schen Rah­men, den er ihnen bei­misst, künst­le­risch auf­zu­la­den, um dem oft Aka­de­mi­schen der Kunst oder des Kunst­be­triebs, dem Hoch­herr­schaft­li­chen etwas entgegenzusetzen?

Katha­ri­na Win­ter­hal­ter: Die Fra­ge kann ich nicht wirk­lich beant­wor­ten, denn sie stellt sich heu­te so nicht mehr. Dafür gibt es zu vie­le Kunst­for­men, die mit der Stren­ge der klas­si­schen Male­rei oder Bild­haue­rei und der Vor­stel­lung vom Künst­ler als Genie gebro­chen haben. Was vie­le Künst­ler wie her­man schon sehr früh, nach dem Zwei­ten Welt­krieg, beschäf­tigt hat, war die Fra­ge, wie man nach dem Grau­en des Krie­ges über­haupt noch Kunst machen kann. Eine Ant­wort dar­auf fan­den Ende der 1950er-Jah­re etwa in Düs­sel­dorf die Grup­pe „ZERO“ und in den Nie­der­lan­den die Grup­pe Nul, zu der auch her­man de vries zähl­te. Sie woll­ten einen Neu­an­fang in der Kunst, eine Stun­de Null. Ein Weg war, das Male­ri­sche immer wei­ter zurück­zu­drän­gen, bis wei­ße Bil­der ent­stan­den, die in der Wand auf­gin­gen. Und was her­man angeht: Er ist nicht einer, der gegen etwas ist. Er geht unbe­irrt sei­nen eige­nen Weg. Sei­ne Arbei­ten kön­nen zwar als Absa­ge gele­sen wer­den, sei­ne Absicht ist es aber nicht.

Eine foto­gra­fi­sche Arbeit zeigt ihn nackt im Wald. Was hat es damit auf sich?

Katha­ri­na Win­ter­hal­ter: Für her­man bedeu­tet auch das Nackt­sein eine Form von Frei­heit. So spürt er am stärks­ten die Ver­bun­den­heit mit der Natur. Ohne Klei­dung nimmt er sei­nen Kör­per viel inten­si­ver wahr. Natür­lich braucht er dazu eine geschütz­te Umge­bung und manch­mal teilt er die­se Erfah­rung auch mit ande­ren, so wie in die­ser Foto­se­rie zu sehen.

In sei­nen Anfän­gen in den 1950er Jah­ren schuf her­man de vries auch Gemäl­de. Ein Gen­re, von dem er sich dann aber abwen­de­te. Warum?

Katha­ri­na Win­ter­hal­ter: Als jun­ger Künst­ler woll­te er sei­ne Natur­e­in­drü­cke auch male­risch aus­drü­cken, aber ohne sie abzu­bil­den, nur vom Gefühl gelei­tet. Dabei ent­stan­den eini­ge Gemäl­de, von denen er heu­te noch sagt, dass sie durch­aus befrie­di­gend waren, dass er aber schon bald das Bedürf­nis hat­te, das Male­ri­sche immer wei­ter zurück­zu­neh­men. Schließ­lich fand er einen Weg, die Din­ge so dar­zu­stel­len, wie sie sind, ohne eine eige­ne Aus­sa­ge tref­fen zu müs­sen: als Aus­schnit­te aus der Wirk­lich­keit sozusagen.

Die Arbeit „in tran­sit“ zeigt eine qua­drat­me­ter­gro­ße Flä­che, auf deren einer Hälf­te Äste lie­gen und auf der ande­ren dut­zen­de Tier­schä­del und Kno­chen. Nach wel­chen Gesichts­punk­ten ord­net er die­se Stü­cke an?

Katha­ri­na Win­ter­hal­ter: Der Auf­bau der Instal­la­ti­on hat Bar­ba­ra Kah­le, der Vor­sit­zen­den des Kunst­ver­eins, und mir viel Spaß gemacht. Vor­ge­ge­ben hat her­man de vries nur die Grö­ße der Flä­che und die Auf­tei­lung in zwei Hälf­ten, aber wir hat­ten die Frei­heit, die Äste und Kno­chen so anzu­ord­nen, wie wir es für gut hielten.

Also auch hier eine Ver­wei­ge­rung von Gestal­tung oder Abs­trak­ti­on – die so weit geht, nicht ein­mal die Bestand­tei­le sei­ner Wer­ke nach einer bestimm­ten Absicht anord­nen zu wollen?

Katha­ri­na Win­ter­hal­ter: Ich wür­de es posi­ti­ver for­mu­lie­ren. Für ihn ist es eine selbst­ver­ständ­li­che Frei­heit, den Kura­to­rin­nen die Anord­nung sei­ner Instal­la­ti­on zu überlassen.

Am 4. August fin­det im Begleit­pro­gramm der Aus­stel­lung eine „rea­ding per­for­mance“ statt, bei der her­man de vries und Sie eini­ge sei­ner Gedich­te lesen. Wie geht er in die­sen Gedich­ten, neben der Klein­schrei­bung, mit der Abs­trakt­heit, die der Spra­che zu eigen ist, um?

Katha­ri­na Win­ter­hal­ter: Die Gedich­te von her­man haben meist ein Erleb­nis, eine all­täg­li­che Erfah­rung oder eine Beob­ach­tung als Aus­gangs­punkt. Er geht mor­gens in den Gar­ten, hört die Vögel, sieht die Bir­ke im Mor­gen­licht leuch­ten. Sol­che Beob­ach­tun­gen ver­sucht er, in Wor­te zu fas­sen. Dabei geht er sehr redu­ziert mit Spra­che um – kein Wort zu viel, aber auch kei­nes zu wenig. Die­se Zei­len ent­ste­hen sehr spon­tan. Auch das Gedicht, das wir in die­ser Aus­stel­lung zei­gen und in dem er sich auf sehr abge­klär­te Wei­se sei­ne Gedan­ken zum Ster­ben und zur Freu­de, am Leben zu sein, macht.

Seit 1970 wohnt er in Eschen­au im nörd­li­chen Stei­ger­wald. War­um ist er dort­hin gezogen?

Katha­ri­na Win­ter­hal­ter: Der Kunst­be­trieb in den Nie­der­lan­den wur­de ihm damals zu eng und er war auf der Suche nach einem Ort, an dem er frei­er leben und Kunst machen könn­te. Zuerst woll­te er auf einer klei­nen Insel auf den Sey­chel­len leben – das klapp­te nicht, also ent­stand die Idee, in Irland ein Cot­ta­ge zu kau­fen. Auf dem Weg dort­hin besuch­te er einen Künst­ler­freund, einen Bild­hau­er, im Stei­ger­wald. Wäh­rend die­ses Auf­ent­halts wan­der­te her­man de vries durch den Böhl­grund, ein wun­der­schö­nes Tal bei Eschen­au. Er war hin­ge­ris­sen von der Schön­heit und Abge­schie­den­heit des Wal­des und als er spä­ter den stei­len Berg hin­un­ter nach Eschen­au fuhr, lag das Dorf so schön in der Abend­son­ne. Am Weges­rand stand eine Bäue­rin, die er spon­tan frag­te, ob im Dorf eine Woh­nung zu mie­ten sei. Es gab eine und so blieb er.

Ist er in Eschen­au so etwas wie eine Berühmtheit?

Katha­ri­na Win­ter­hal­ter: Inzwi­schen wis­sen die Leu­te, was er macht und auch, dass er als Künst­ler einen Namen hat. Viel dazu bei­getra­gen hat eine Aus­stel­lung vor gut 20 Jah­ren in der Gale­rie im Saal in Eschen­au. Ihr Titel war „vor euer föaß“. Da erkann­ten die Men­schen, dass sei­ne Arbei­ten etwas mit ihnen zu tun haben, mit der Umge­bung, in der sie leben. Dass er zum Bei­spiel im Stei­ger­wald mehr Wege und Flur­na­men kennt als die aller­meis­ten Ein­hei­mi­schen. Und wenn Men­schen so eine Ver­bin­dung der Kunst zu ihrer Lebens­welt erken­nen, füh­len sie sich oft ganz anders davon berührt. Und die Bien­na­le in Vene­dig 2015, bei der er den nie­der­län­di­schen Pavil­lon bespielt hat, war auch in Fran­ken ein Aha-Erlebnis.

Die Aus­stel­lung „umarmt von der Welt“ von her­man de vries ist noch bis 1. Sep­tem­ber im Kes­sel­haus zu sehen.

herman de vries
„jour­nal von bah­rain“, 2020
Weiterer Artikel

Ach­tel­fi­nal-Ticket gelöst

Toto-Pokal: Ein­tracht Bam­berg gewinnt Stadt­der­by gegen Don Bosco Bamberg

Nächster Artikel

26. August bis 7. September

Kino unter frei­em Him­mel: Som­mer­ki­no im Aufseesianum