Den Steigerwald, wo er seit 1970 lebt, nennt der Künstler herman de vries sein Atelier. Dort sammelt der 93-jährige Niederländer die Bestandteile seiner Werke: Äste, Blätter, Steine, Tierknochen, Erden oder kleine Alltagsgegenstände. Die Werke, die daraus entstehen, entziehen sich jeder Einordnung – wie die in ihnen dargestellte Natur stehen sie ohne Bedürfnis nach Selbsterklärung für sich selbst. Im Interview mit Kuratorin Katharina Winterhalter haben wir trotzdem den Versuch einer Annäherung an das nicht so leicht Erklärbare bei herman de vries unternommen.
Frau Winterhalter, warum bedient sich herman de vries grundsätzlich der Kleinschreibung?
Katharina Winterhalter: Hintergrund ist seine Ablehnung jeglicher Form von Hierarchie seit seiner Jugend. Schon als Kind hatte er ein großes Bedürfnis nach Freiheit. Die Schule war ihm ein Gräuel, er fühlte sich eingesperrt. Die Kleinschreibung ist ein sichtbares Zeichen gegen die Hierarchie in der Schrift. Es wäre schön, wenn Sie das bei seinem Namen, den Titeln seiner Werke und dem Ausstellungstitel übernehmen könnten.
Was bedeutet der Ausstellungstitel „umarmt von der welt“?
Katharina Winterhalter: Vor ein paar Monaten, bei einem gemeinsamen Spaziergang im Wald, wurde mir klar, was das Thema der Ausstellung sein würde: Was das Draußen-in-der-Natur-sein für herman de vries bedeutet, seit er als Kind mit seinen Eltern in den Dünen spazieren ging, nämlich frei sein. Und wie es sein Leben und seine Kunst beeinflusste. Bis heute erinnert er sich an den Geruch von Salz und Meer, an die kleinen Pflanzen im Sand, den Himmel über sich und daran, was diese Erfahrungen in ihm auslösten. Er fühlte sich als Teil der Natur. Dieses Gefühl, sich draußen frei zu fühlen, begleitet ihn bis heute. Der Titel „umarmt von der welt“ ist der Anfang eines Gedichtes und beschreibt dieses Empfinden auf sehr poetische Weise.
Nach welchen Gesichtspunkten haben Sie die Werke die Ausstellung ausgewählt? Ist es eine Retrospektive?
Katharina Winterhalter: Nein, es ist keine Retrospektive, dazu fehlen doch einige Bereiche seines Schaffens. Wir haben Werke ausgewählt, in denen sich der Ausstellungstitel widerspiegelt: Bilder, Skulpturen, Fotografien und Installationen aus dem Garten, dem Wald und von Reisen in viele Länder. Zum Beispiel ein fast vier Meter großer Kreis mit Blättern und Ästen aus dem Steigerwald, Steine aus aller Welt, grüne Erde aus Gomera, ausgerieben auf ein großes Blatt Papier oder die Blätter eines Apfelbaumes, die nach einem Hagelsturm 1978 auf der Erde lagen. Jedes auf eine andere Weise beschädigt. Zum ersten Mal zu sehen ist das gut 90-teilige „journal von bahrain“. Ein Journal ist eine Art Tagebuch über eine bestimmte Zeit an einem bestimmten Ort, dieses entstand 2020 für eine Ausstellung im Nationalmuseum von Bahrain, die wegen Corona aber abgesagt werden musste.
Was müssen so ein Blatt oder Alltagsgegenstände, wie sie das „journal“ zeigt, haben, dass de vries sie für sammelnswert hält? Warum hebt er den einen Ast auf und lässt den anderen liegen?
Katharina Winterhalter: Das ist nicht leicht erklärbar. Auch hier gibt es für herman keine Hierarchie. Alle Blätter oder Äste sind für ihn gleich bedeutsam, sind Teil des Ganzen. Ich gehe mit ihm durch den Wald und oft weiß ich schon, was er sehen oder aufheben wird. Aber das sagt nichts über den Wert der Dinge, die er schließlich mitnimmt, aus. Es sind sehr intuitive Momente. herman sprach einmal von der Poesie des Augenblicks. Dabei stellt sich natürlich auch die Frage, ab wann diese Dinge zur Kunst werden? In dem Moment, wenn er sie sieht, aufhebt und mit nach Hause nimmt? In dem Moment, in dem er mit seiner Frau Susanne darüber spricht oder in dem Moment, in dem er beschließt, sie zu zeigen? Wir haben lange darüber gesprochen und keine endgültige Antwort gefunden. Denn die Dinge bleiben ja, was sie sind, ob sie nun im Wald liegen oder im Museum an der Wand hängen.
Versucht er, die Dinge irgendwie mit Bedeutung aufzuladen?
Katharina Winterhalter: Nein, wie eben schon gesagt, die Dinge stehen für sich. Die Natur spricht für sich. Natürlich geht es auch um Vergänglichkeit, das ist bei vielen Arbeiten spürbar. Aber man muss das nicht komplizierter ausdrücken. In der Einfachheit kann eine große Schönheit oder Poesie liegen. Dürer hat ein Rasenstück gemalt, ein wunderbares Werk. herman hat ein Rasenstück ausgeschnitten, hat es getrocknet und gerahmt. Dann kann das Publikum entschieden, ob es sich berühren lässt oder nicht.
Etwa zum Beginn des 20. Jahrhunderts kam sogenannte Ready-made Kunst auf, also Kunst, die Kunst ist, weil ihre Gegenstände dazu erklärt wurden. Ist das seine Richtung?
Katharina Winterhalter: Man kann einen Teil davon sicher als Ready-made bezeichnen, zum Beispiel die eingerahmte Sichel, die zum „journal von bahrain“ gehört. Aber der Begriff steht auf keinen Fall für das ganze Werk.
Könnte sein Ansatz darin bestehen, völlig unkünstlerische Dinge wie Alltagsgegenstände zu nehmen, sie durch die Platzierung in einem künstlerischen Rahmen, den er ihnen beimisst, künstlerisch aufzuladen, um dem oft Akademischen der Kunst oder des Kunstbetriebs, dem Hochherrschaftlichen etwas entgegenzusetzen?
Katharina Winterhalter: Die Frage kann ich nicht wirklich beantworten, denn sie stellt sich heute so nicht mehr. Dafür gibt es zu viele Kunstformen, die mit der Strenge der klassischen Malerei oder Bildhauerei und der Vorstellung vom Künstler als Genie gebrochen haben. Was viele Künstler wie herman schon sehr früh, nach dem Zweiten Weltkrieg, beschäftigt hat, war die Frage, wie man nach dem Grauen des Krieges überhaupt noch Kunst machen kann. Eine Antwort darauf fanden Ende der 1950er-Jahre etwa in Düsseldorf die Gruppe „ZERO“ und in den Niederlanden die Gruppe Nul, zu der auch herman de vries zählte. Sie wollten einen Neuanfang in der Kunst, eine Stunde Null. Ein Weg war, das Malerische immer weiter zurückzudrängen, bis weiße Bilder entstanden, die in der Wand aufgingen. Und was herman angeht: Er ist nicht einer, der gegen etwas ist. Er geht unbeirrt seinen eigenen Weg. Seine Arbeiten können zwar als Absage gelesen werden, seine Absicht ist es aber nicht.
Eine fotografische Arbeit zeigt ihn nackt im Wald. Was hat es damit auf sich?
Katharina Winterhalter: Für herman bedeutet auch das Nacktsein eine Form von Freiheit. So spürt er am stärksten die Verbundenheit mit der Natur. Ohne Kleidung nimmt er seinen Körper viel intensiver wahr. Natürlich braucht er dazu eine geschützte Umgebung und manchmal teilt er diese Erfahrung auch mit anderen, so wie in dieser Fotoserie zu sehen.
In seinen Anfängen in den 1950er Jahren schuf herman de vries auch Gemälde. Ein Genre, von dem er sich dann aber abwendete. Warum?
Katharina Winterhalter: Als junger Künstler wollte er seine Natureindrücke auch malerisch ausdrücken, aber ohne sie abzubilden, nur vom Gefühl geleitet. Dabei entstanden einige Gemälde, von denen er heute noch sagt, dass sie durchaus befriedigend waren, dass er aber schon bald das Bedürfnis hatte, das Malerische immer weiter zurückzunehmen. Schließlich fand er einen Weg, die Dinge so darzustellen, wie sie sind, ohne eine eigene Aussage treffen zu müssen: als Ausschnitte aus der Wirklichkeit sozusagen.
Die Arbeit „in transit“ zeigt eine quadratmetergroße Fläche, auf deren einer Hälfte Äste liegen und auf der anderen dutzende Tierschädel und Knochen. Nach welchen Gesichtspunkten ordnet er diese Stücke an?
Katharina Winterhalter: Der Aufbau der Installation hat Barbara Kahle, der Vorsitzenden des Kunstvereins, und mir viel Spaß gemacht. Vorgegeben hat herman de vries nur die Größe der Fläche und die Aufteilung in zwei Hälften, aber wir hatten die Freiheit, die Äste und Knochen so anzuordnen, wie wir es für gut hielten.
Also auch hier eine Verweigerung von Gestaltung oder Abstraktion – die so weit geht, nicht einmal die Bestandteile seiner Werke nach einer bestimmten Absicht anordnen zu wollen?
Katharina Winterhalter: Ich würde es positiver formulieren. Für ihn ist es eine selbstverständliche Freiheit, den Kuratorinnen die Anordnung seiner Installation zu überlassen.
Am 4. August findet im Begleitprogramm der Ausstellung eine „reading performance“ statt, bei der herman de vries und Sie einige seiner Gedichte lesen. Wie geht er in diesen Gedichten, neben der Kleinschreibung, mit der Abstraktheit, die der Sprache zu eigen ist, um?
Katharina Winterhalter: Die Gedichte von herman haben meist ein Erlebnis, eine alltägliche Erfahrung oder eine Beobachtung als Ausgangspunkt. Er geht morgens in den Garten, hört die Vögel, sieht die Birke im Morgenlicht leuchten. Solche Beobachtungen versucht er, in Worte zu fassen. Dabei geht er sehr reduziert mit Sprache um – kein Wort zu viel, aber auch keines zu wenig. Diese Zeilen entstehen sehr spontan. Auch das Gedicht, das wir in dieser Ausstellung zeigen und in dem er sich auf sehr abgeklärte Weise seine Gedanken zum Sterben und zur Freude, am Leben zu sein, macht.
Seit 1970 wohnt er in Eschenau im nördlichen Steigerwald. Warum ist er dorthin gezogen?
Katharina Winterhalter: Der Kunstbetrieb in den Niederlanden wurde ihm damals zu eng und er war auf der Suche nach einem Ort, an dem er freier leben und Kunst machen könnte. Zuerst wollte er auf einer kleinen Insel auf den Seychellen leben – das klappte nicht, also entstand die Idee, in Irland ein Cottage zu kaufen. Auf dem Weg dorthin besuchte er einen Künstlerfreund, einen Bildhauer, im Steigerwald. Während dieses Aufenthalts wanderte herman de vries durch den Böhlgrund, ein wunderschönes Tal bei Eschenau. Er war hingerissen von der Schönheit und Abgeschiedenheit des Waldes und als er später den steilen Berg hinunter nach Eschenau fuhr, lag das Dorf so schön in der Abendsonne. Am Wegesrand stand eine Bäuerin, die er spontan fragte, ob im Dorf eine Wohnung zu mieten sei. Es gab eine und so blieb er.
Ist er in Eschenau so etwas wie eine Berühmtheit?
Katharina Winterhalter: Inzwischen wissen die Leute, was er macht und auch, dass er als Künstler einen Namen hat. Viel dazu beigetragen hat eine Ausstellung vor gut 20 Jahren in der Galerie im Saal in Eschenau. Ihr Titel war „vor euer föaß“. Da erkannten die Menschen, dass seine Arbeiten etwas mit ihnen zu tun haben, mit der Umgebung, in der sie leben. Dass er zum Beispiel im Steigerwald mehr Wege und Flurnamen kennt als die allermeisten Einheimischen. Und wenn Menschen so eine Verbindung der Kunst zu ihrer Lebenswelt erkennen, fühlen sie sich oft ganz anders davon berührt. Und die Biennale in Venedig 2015, bei der er den niederländischen Pavillon bespielt hat, war auch in Franken ein Aha-Erlebnis.
Die Ausstellung „umarmt von der Welt“ von herman de vries ist noch bis 1. September im Kesselhaus zu sehen.