Eine „begehbare musikalische Skulptur“ inszeniert das Musikensemble nonoise Mitte November in der Villa Dessauer. Auf der Grundlage von Franz Kafkas Roman „Das Schloss“ und unter Mitwirkung dutzender Beteiligter gehen Jochen Neurath und Frank Düwel ein künstlerisches Risiko ein.
In seinem 1926 unvollendet und posthum veröffentlichten Roman „Das Schloss“ beschreibt Franz Kafka das Scheitern der Hauptfigur K. In einem Dorf soll der Landvermesser seiner Arbeit nachgehen, zu der er von einem geheimnisvollen Schloss aus beauftragt wurde. Beziehungsweise wahrscheinlich beauftragt wurde. Denn bis zum Ende gelingt es K nicht, Eingang ins Schloss zu erhalten, seine Auftraggeber oder seinen genauen Auftrag kennenzulernen. Immer wieder verliert er sich in einem für ihn undurchschaubaren Netz an Bürokratie, Hierarchie und Verschwiegenheit.
Diesen Roman haben sich Jochen Neurath (hier im Stadtecho-Fragebogen), Leiter von nonoise, und Regisseur Frank Düwel, der schon an mehreren Produktionen des Ensembles beteiligt war, nun für eine musikalisch-theatralische Inszenierung vorgenommen. Am 17., 18. und 19. November können sich kleine Publikumsgruppen auf einen Rundgang durch die Villa Dessauer und damit durch eine begehbare musikalische Skulptur machen. Auf den Stationen dieses Ganges stellen Ensemblemitglieder von nonoise in fast allen Räumen und Zimmern des Gebäudes Szenen, die an Szenen des Romans angelehnt sind, dar. Den Großteil der Aufführung gibt jedoch die Musik Jochen Neuraths ab, die der musica-viva-chor bamberg, Klänge des Sounddesigners Dominik Tremel und weitere Mitwirkende ergänzen.
Die Zutaten für ein eindrückliches Kulturerlebnis sind also vorhanden. Allerdings möchten Jochen Neurath und Frank Düwel mit der Inszenierung auch ein gewisses Kafka-Gefühl vermitteln. Hilfe zum schlussendlichen Verstehen will die Inszenierung dem Publikum in diesem Sinne aber nicht geben. Ganz wie es K. im Roman ergeht, soll „Das Schloss“ von nonoise seinem Publikum ein Gefühl der Sinn- und Vergeblichkeit vermitteln. Ob das Publikum, das dafür eine Stunde durch die Villa Dessauer laufen muss, diese Herangehensweise mitmacht, bleibt abzuwarten.
Wir haben mit Jochen Neurath über nonoise, die Inszenierung und ihr Risiko gesprochen.
Herr Neurath, die Inszenierung von „Das Schloss“ beinhaltet Elemente der Musik, des Theaters und der Literatur und bespielt mit großem Personal ein ganzes Gebäude. Ist sie die bisher größte nonoise-Produktion?
Jochen Neurath: Ja, es ist schon eine ziemliche Bandbreite, die wir zusammenbringen. In vielerlei Hinsicht ist es ein neuer Schritt für nonoise. Erstmal der schieren Größe wegen. Wir haben etwa 40 Mitwirkende und einen sehr viel größeren Stab an Mitarbeitern als zuvor. Und durch die Kooperation mit dem Kunstverein, die wir für die Inszenierung eingegangen sind, haben wir auch noch einen sehr prominenten Ort und Produktionspartner.
Schon in den zurückliegenden Inszenierungen des Musikensembles nonoise hatten szenische und performative Mittel einen großen Platz neben den musikalischen. In „Das Schloss“ stehen Spielszenen sehr viel mehr im Vordergrund. Ist die Inszenierung ein Wendepunkt in der Entwicklung von nonoise?
Jochen Neurath: Welche Richtung nonoise ab hier nimmt, weiß ich noch nicht. Vielleicht werden die nächsten Produktionen wieder einfacher und weniger komplex sein, das werde ich nach der Erfahrung dieses Projekts entscheiden. Der Ausgangspunkt ist auf jeden Fall immer, das war auch schon vor nonoise so, dass ich verschiedene Verhältnisse von Sprache und Musik zu erforschen versuche, um diese beiden Sphären in verschiedenen Konstellationen zusammenzubringen. Und wenn wir in einer Aufführung Sprechpassagen haben, dann ist es fast ein natürlicher Prozess, dass die Musikalisierung des Textes dem Theater nahekommt. Wobei das Verhältnis von Text und Musik bei unserer vorhergegangenen Inszenierung eines Stücks von Rainer Maria Rilke noch anders war. Da habe ich den Text selbst als musikalisch betrachtet, als Klang und Rhythmus der Sprache. Jetzt trennen wir die beiden Bestandteile. Auf der einen Seite steht die Musik des Chors und der Instrumente, auf der anderen Seite haben wir szenische Situationen, in denen die Schauspieler Sprache als Kommunikation benutzen.
Haben Sie mit nonoise aber auch feststellen müssen, dass die Musik letztlich nicht ausführlich genug ausdrücken kann, was Sie auf die Bühne bringen wollen?
Jochen Neurath: Mein Musikbegriff ist sowieso schon sehr weit gefasst. Er umfasst auch Sprache und die Präsenz der Ausführenden im Raum. Das ist grundlegend eine eher szenische Betrachtungsweise. Insofern ist nonoise auch mit diesem weiten Musikbegriff immer noch auf seinem angestammten Gebiet.
Warum haben Sie „Das Schloss“ als Grundlage Ihrer nächsten Inszenierung ausgewählt?
Jochen Neurath: Als es klar war, dass wir die Villa Dessauer für dieses Projekt nutzen können, lief ich eines Tages durch das Gebäude als es gerade komplett leer war. Dabei hatte ich so ein Kafka-Gefühl. Ich wusste in manchen Zimmern oder Fluren nicht genau, wo es noch weiter geht oder wo es noch weitere Räume gibt und wo man umkehren muss. Da dachte ich an den Roman. Später las ich ihn noch einmal und fühlte mich noch weiter inspiriert.
Worin besteht seine musikalische Anschlussfähigkeit?
Jochen Neurath: Erstaunlicherweise gibt es in dem Roman sehr viele Erwähnungen von akustischen Eindrücken. Das liegt vielleicht daran, daß der Protagonist, Landvermesser K., nicht verstehen kann, warum er nicht in das Schloss gelangt. Deswegen versucht er, alle Informationen, die er bekommt zu verwerten, und schärft dabei seine Sinne derart, dass alles, was um ihn herum akustisch passiert, sehr klar und kristallin beschrieben wird. Sei es Glockenläuten, Geräusche aus Telefonleitungen, eigenartige Lieder in der Gastwirtschaft – das ist viel Ton drin.
Eine gängige Interpretation des Romans ist, ihn als Kritik an Bürokratie zu verstehen. Gehen Sie auch in diese Richtung?
Jochen Neurath: Ich würde den Text tatsächlich nicht so sehr auf Bürokratie anwenden, auch wenn wahrscheinlich alle auf Behörden schon einmal ein Kafka-Gefühl hatten. Es ist eher ein allgemeines Vergeblichkeitsgefühl, das wir herausarbeiten möchten. Oder die Frage nach dem Streben, wo man im Leben hin soll. Ist das Ziel, das man anstrebt – K. möchte ins Schloss – aber auch wirklich richtig und versteht man seine Lebensumstände überhaupt genau? Solche Dinge werden heute, wo sich ständig so Vieles grundsätzlich ändert, immer zentraler. Und entsprechende Fragen sind in allgemeiner Form auch Grundfragen des Romans.
Sie beschreiben das Projekt als „begehbare musikalische Skulptur“. Was ist das?
Jochen Neurath: Wenn man den musikalischen Teil rauslässt, wäre eine begehbare Skulptur eine solche, die man nicht nur in einem Raum stehen sieht, sondern in der man auch herumgehen kann. In diesem Sinne sehen wir die Villa Dessauer und alles, was wir hineinstellen werden, als eine große Skulptur an. Musikalisch soll die Skulptur insofern sein, als dass wir einen Klang-Raum in ihr erzeugen, der die ganze Villa durchdringt und in allen Ecken des Hauses immer präsent ist. Und je nachdem, wo man sich befindet, ändern sich die Klänge und die Musik.
Was erwartet das Publikum auf dem Rundgang?
Jochen Neurath: Das Publikum wird im Abstand von einer Viertelstunde in kleinen Gruppen eine gute Stunde lang durch die Villa geführt. Auf diesem Weg sollte man für Unerwartetes offen sein. Aber wenn man sich darauf einlässt, wird man in eine Welt mitgenommen, die man versuchen kann zu entziffern. Wie K. im Roman macht sich auch das Publikum auf eine Reise. Dabei scheint es zunächst möglich, einen Sinn und eine Richtung auf dieser Reise festzustellen, dadurch dass man immer mehr Informationen darüber erhält, wie das alles zusammenhängen könnte. Am Ende bleibt es aber allen selbst überlassen, die Dinge, die sie wahrgenommen haben, für sich zu einem geschlossenen Erlebnis zusammenzufügen oder auch ratlos davorzustehen. Es ist wie immer in der Kunst ein Angebot weiterzudenken.
Wie sehen die Stationen genau aus? Geben sie die Handlung des Romans wieder?
Jochen Neurath: Nicht mehr als bei nonoise sonst auch. Es sind eher Momente, Situationen oder Sprachbilder, die wir zeigen. Es gibt zum Beispiel Stationen, bei denen man in einem Raum mit Darstellern zusammen ist und deren Aktivitäten unmittelbar erlebt und sich teilweise miteinbezogen fühlt oder auch fremd davor steht. Die Situationen, die vorgespielt werden, könnten so ähnlich im Kosmos des Romans stattfinden, sind ihm aber nicht konkret entnommen.
Schlüpft das Publikum auf seinem Weg durch die Villa Dessauer in die Rolle von Landvermesser K.?
Jochen Neurath: Wenn jemand diese Rolle annimmt, kann er sich so fühlen, ja. Es kann aber auch sein, dass sich jemand etwas weiter außerhalb fühlt, dann ist er vielleicht wie ein Leser des Romans – oder ein Leser unserer Lesart.
Ist das Stück auf die Beteiligung des Publikums angewiesen?
Jochen Neurath: Nein, das nicht, es ist kein Mitmachtheater. Es gibt Situationen, in denen man sich als Publikum einbinden lassen kann, aber das Stück geht so oder so weiter.
Ändern sich die Situationen je nach Reaktion des Publikums?
Jochen Neurath: Es wird sicherlich Abweichungen in den Publikumsreaktionen geben, aber das ist in der Arbeit von Regisseur Frank Düwel eingeplant. In seinen Anteilen wird es zwei Schienen geben: Einerseits klar definierte Abläufe und Situationen und andererseits Freiheit und Offenheit dafür, wie man mit bestimmten Reaktionen umgeht. Es wird also improvisatorische Anteile geben, aber das meiste ist gescripted.
Sie sprachen vorhin von einem Kafka-Gefühl. Der Roman erzeugt dasselbe durch Thematiken des Scheitern oder Verlorengehens in Bürokratie. Wie gehen Sie darauf ein?
Jochen Neurath: Der Reiz an Kafkas Prosa besteht für mich unter anderem darin, dass mit extrem klarer Sprache Dinge beschrieben werden, die man sich zwar plastisch vorstellen kann, deren Sinn sich aber nicht erschließt. So ähnlich versuchen wir es auch. Jede Situation, die wir in der Villa erschaffen, jeder Klang und alles Musikalische, das passiert, ist vollkommen klar und gut verständlich. Aber die Frage, ob man darin einen Gesamtsinn, einen erzählbaren Sinn findet, können wir dem Publikum nicht abnehmen. In dieser Offenheit versuchen wir, Kafka zu transportieren.
Das klingt, als ob sich das – nicht zuletzt zahlende – Publikum auf Frustration und ein Enttäuschtwerden einstellen sollte.
Jochen Neurath: Ich würde es nicht so herum sehen. Wir versuchen durchaus, eine Kunstschönheit zu erreichen – aber nur auf der konkreten Sinnebene. Eine Frage, wie „Was bedeutet das?“ lassen wir jedoch offen, ganz im Sinne Kafkas. Das ist keine Enttäuschung, sondern hoffentlich eine Bereicherung. Wenn sich aber jemand im Publikum die Frage stellt, was das alles heißt und wie man es gedanklich durchdringen könnte, dann ist man schnell an dieser Widersprüchlichkeit von Kafka und Fragen wie: Worauf soll das alles hinaus, findet man überhaupt irgendwo einen Sinn?
Sie haben Ihrer Inszenierung also letztlich nichts Verstehbares mitgegeben?
Jochen Neurath: Doch, doch! Entweder im Sokratischen Sinne des „Ich weiß, dass ich nichts weiß“. Oder im Sinne von: Man kann die Schönheit der Kunst genießen und vielleicht sind dann viele Fragen des Lebens unwichtig.
Nicht unriskant zu hoffen, dass das Publikum die Inszenierung genauso sieht.
Jochen Neurath: Unbedingt, aber Kunst ohne Risiko ist langweilig.
Was macht Sie zuversichtlich, dass das Publikum in der Inszenierung dieselbe Schönheit wie Sie erkennt und diese genießt?
Jochen Neurath: Da vertraue ich ein bisschen meiner künstlerischen Erfahrung und darauf, dass ich mit nonoise schon an sehr verschiedenen Ästhetiken gearbeitet habe. Dies kann ich hier mit einbringen. Und dann haben wir ein wunderbares Team. Alle haben für sich ein Bedürfnis, ihr Kunstwollen einzubringen.
Ein Projekt dieser Größe zu inszenieren bedarf auch eines gewissen Selbstvertrauens. Was ist die Quelle des Selbstvertrauens von nonoise?
Jochen Neurath: Wie wahrscheinlich bei jedem Künstler liegen auch bei mir Selbstvertrauen und Selbstzweifel sehr nahe beieinander und sind untrennbar ineinander verschlungen. Gerade deswegen sind Anerkennungen von außen, wie der Berganzapreis, den nonoise 2022 gewonnen hat, unglaublich wichtig. Solche Dinge sind eine wichtige Bestätigung, dass das, was man vorher vielleicht angezweifelt hat, zumindest nach außen hin nicht so wirkt. Ich versuche immer, Zweifel und die Arbeit mit den Mitwirkenden voneinander zu trennen, in dem Sinne, dass ich alle mit Begeisterung einbinden will, eben mit dem Bewusstsein, dass das etwas Tolles wird. Selbstzweifel sind notwendig und wichtig, solange sie nicht hemmen. An irgendeinem Punkt der Arbeit muss ich aber diese Zweifel zurückstellen und einfach das Ensemble mitreißen.
Der Roman ist unvollendet. Fügen Sie ein Ende hinzu?
Jochen Neurath: Die Idee ist, dass man sich am Ende des Rundgangs der Welt gegenüber anders fühlt. Zusätzlich hat sich Frank Düwel eine sehr charmante Lösung ausgedacht, die Offenheit des Inhalts noch einmal fürs Ende aufzugreifen.