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Jochen Neu­r­a­th im Interview

nonoi­se-Pro­jekt „Das Schloss“: „Kunst ohne Risi­ko ist langweilig“

Eine „begeh­ba­re musi­ka­li­sche Skulp­tur“ insze­niert das Musik­ensem­ble nonoi­se Mit­te Novem­ber in der Vil­la Des­sau­er. Auf der Grund­la­ge von Franz Kaf­kas Roman „Das Schloss“ und unter Mit­wir­kung dut­zen­der Betei­lig­ter gehen Jochen Neu­r­a­th und Frank Düwel ein künst­le­ri­sches Risi­ko ein.

In sei­nem 1926 unvoll­endet und post­hum ver­öf­fent­lich­ten Roman „Das Schloss“ beschreibt Franz Kaf­ka das Schei­tern der Haupt­fi­gur K. In einem Dorf soll der Land­ver­mes­ser sei­ner Arbeit nach­ge­hen, zu der er von einem geheim­nis­vol­len Schloss aus beauf­tragt wur­de. Bezie­hungs­wei­se wahr­schein­lich beauf­tragt wur­de. Denn bis zum Ende gelingt es K nicht, Ein­gang ins Schloss zu erhal­ten, sei­ne Auf­trag­ge­ber oder sei­nen genau­en Auf­trag ken­nen­zu­ler­nen. Immer wie­der ver­liert er sich in einem für ihn undurch­schau­ba­ren Netz an Büro­kra­tie, Hier­ar­chie und Verschwiegenheit.

Die­sen Roman haben sich Jochen Neu­r­a­th (hier im Stadt­echo-Fra­ge­bo­gen), Lei­ter von nonoi­se, und Regis­seur Frank Düwel, der schon an meh­re­ren Pro­duk­tio­nen des Ensem­bles betei­ligt war, nun für eine musi­ka­lisch-thea­tra­li­sche Insze­nie­rung vor­ge­nom­men. Am 17., 18. und 19. Novem­ber kön­nen sich klei­ne Publi­kums­grup­pen auf einen Rund­gang durch die Vil­la Des­sau­er und damit durch eine begeh­ba­re musi­ka­li­sche Skulp­tur machen. Auf den Sta­tio­nen die­ses Gan­ges stel­len Ensem­ble­mit­glie­der von nonoi­se in fast allen Räu­men und Zim­mern des Gebäu­des Sze­nen, die an Sze­nen des Romans ange­lehnt sind, dar. Den Groß­teil der Auf­füh­rung gibt jedoch die Musik Jochen Neu­r­a­ths ab, die der musi­ca-viva-chor bam­berg, Klän­ge des Sound­de­si­gners Domi­nik Tre­mel und wei­te­re Mit­wir­ken­de ergänzen.

Die Zuta­ten für ein ein­drück­li­ches Kul­tur­er­leb­nis sind also vor­han­den. Aller­dings möch­ten Jochen Neu­r­a­th und Frank Düwel mit der Insze­nie­rung auch ein gewis­ses Kaf­ka-Gefühl ver­mit­teln. Hil­fe zum schluss­end­li­chen Ver­ste­hen will die Insze­nie­rung dem Publi­kum in die­sem Sin­ne aber nicht geben. Ganz wie es K. im Roman ergeht, soll „Das Schloss“ von nonoi­se sei­nem Publi­kum ein Gefühl der Sinn- und Ver­geb­lich­keit ver­mit­teln. Ob das Publi­kum, das dafür eine Stun­de durch die Vil­la Des­sau­er lau­fen muss, die­se Her­an­ge­hens­wei­se mit­macht, bleibt abzuwarten.

Wir haben mit Jochen Neu­r­a­th über nonoi­se, die Insze­nie­rung und ihr Risi­ko gesprochen.

Herr Neu­r­a­th, die Insze­nie­rung von „Das Schloss“ beinhal­tet Ele­men­te der Musik, des Thea­ters und der Lite­ra­tur und bespielt mit gro­ßem Per­so­nal ein gan­zes Gebäu­de. Ist sie die bis­her größ­te nonoise-Produktion?

Jochen Neu­r­a­th: Ja, es ist schon eine ziem­li­che Band­brei­te, die wir zusam­men­brin­gen. In vie­ler­lei Hin­sicht ist es ein neu­er Schritt für nonoi­se. Erst­mal der schie­ren Grö­ße wegen. Wir haben etwa 40 Mit­wir­ken­de und einen sehr viel grö­ße­ren Stab an Mit­ar­bei­tern als zuvor. Und durch die Koope­ra­ti­on mit dem Kunst­ver­ein, die wir für die Insze­nie­rung ein­ge­gan­gen sind, haben wir auch noch einen sehr pro­mi­nen­ten Ort und Produktionspartner.

Schon in den zurück­lie­gen­den Insze­nie­run­gen des Musik­ensem­bles nonoi­se hat­ten sze­ni­sche und per­for­ma­ti­ve Mit­tel einen gro­ßen Platz neben den musi­ka­li­schen. In „Das Schloss“ ste­hen Spiel­sze­nen sehr viel mehr im Vor­der­grund. Ist die Insze­nie­rung ein Wen­de­punkt in der Ent­wick­lung von nonoise?

Jochen Neu­r­a­th: Wel­che Rich­tung nonoi­se ab hier nimmt, weiß ich noch nicht. Viel­leicht wer­den die nächs­ten Pro­duk­tio­nen wie­der ein­fa­cher und weni­ger kom­plex sein, das wer­de ich nach der Erfah­rung die­ses Pro­jekts ent­schei­den. Der Aus­gangs­punkt ist auf jeden Fall immer, das war auch schon vor nonoi­se so, dass ich ver­schie­de­ne Ver­hält­nis­se von Spra­che und Musik zu erfor­schen ver­su­che, um die­se bei­den Sphä­ren in ver­schie­de­nen Kon­stel­la­tio­nen zusam­men­zu­brin­gen. Und wenn wir in einer Auf­füh­rung Sprech­pas­sa­gen haben, dann ist es fast ein natür­li­cher Pro­zess, dass die Musi­ka­li­sie­rung des Tex­tes dem Thea­ter nahe­kommt. Wobei das Ver­hält­nis von Text und Musik bei unse­rer vor­her­ge­gan­ge­nen Insze­nie­rung eines Stücks von Rai­ner Maria Ril­ke noch anders war. Da habe ich den Text selbst als musi­ka­lisch betrach­tet, als Klang und Rhyth­mus der Spra­che. Jetzt tren­nen wir die bei­den Bestand­tei­le. Auf der einen Sei­te steht die Musik des Chors und der Instru­men­te, auf der ande­ren Sei­te haben wir sze­ni­sche Situa­tio­nen, in denen die Schau­spie­ler Spra­che als Kom­mu­ni­ka­ti­on benutzen.

Haben Sie mit nonoi­se aber auch fest­stel­len müs­sen, dass die Musik letzt­lich nicht aus­führ­lich genug aus­drü­cken kann, was Sie auf die Büh­ne brin­gen wollen?

Jochen Neu­r­a­th: Mein Musik­be­griff ist sowie­so schon sehr weit gefasst. Er umfasst auch Spra­che und die Prä­senz der Aus­füh­ren­den im Raum. Das ist grund­le­gend eine eher sze­ni­sche Betrach­tungs­wei­se. Inso­fern ist nonoi­se auch mit die­sem wei­ten Musik­be­griff immer noch auf sei­nem ange­stamm­ten Gebiet.

War­um haben Sie „Das Schloss“ als Grund­la­ge Ihrer nächs­ten Insze­nie­rung ausgewählt?

Jochen Neu­r­a­th: Als es klar war, dass wir die Vil­la Des­sau­er für die­ses Pro­jekt nut­zen kön­nen, lief ich eines Tages durch das Gebäu­de als es gera­de kom­plett leer war. Dabei hat­te ich so ein Kaf­ka-Gefühl. Ich wuss­te in man­chen Zim­mern oder Flu­ren nicht genau, wo es noch wei­ter geht oder wo es noch wei­te­re Räu­me gibt und wo man umkeh­ren muss. Da dach­te ich an den Roman. Spä­ter las ich ihn noch ein­mal und fühl­te mich noch wei­ter inspiriert.

Wor­in besteht sei­ne musi­ka­li­sche Anschlussfähigkeit?

Jochen Neu­r­a­th: Erstaun­li­cher­wei­se gibt es in dem Roman sehr vie­le Erwäh­nun­gen von akus­ti­schen Ein­drü­cken. Das liegt viel­leicht dar­an, daß der Prot­ago­nist, Land­ver­mes­ser K., nicht ver­ste­hen kann, war­um er nicht in das Schloss gelangt. Des­we­gen ver­sucht er, alle Infor­ma­tio­nen, die er bekommt zu ver­wer­ten, und schärft dabei sei­ne Sin­ne der­art, dass alles, was um ihn her­um akus­tisch pas­siert, sehr klar und kris­tal­lin beschrie­ben wird. Sei es Glo­cken­läu­ten, Geräu­sche aus Tele­fon­lei­tun­gen, eigen­ar­ti­ge Lie­der in der Gast­wirt­schaft – das ist viel Ton drin.

Eine gän­gi­ge Inter­pre­ta­ti­on des Romans ist, ihn als Kri­tik an Büro­kra­tie zu ver­ste­hen. Gehen Sie auch in die­se Richtung?

Jochen Neu­r­a­th: Ich wür­de den Text tat­säch­lich nicht so sehr auf Büro­kra­tie anwen­den, auch wenn wahr­schein­lich alle auf Behör­den schon ein­mal ein Kaf­ka-Gefühl hat­ten. Es ist eher ein all­ge­mei­nes Ver­geb­lich­keits­ge­fühl, das wir her­aus­ar­bei­ten möch­ten. Oder die Fra­ge nach dem Stre­ben, wo man im Leben hin soll. Ist das Ziel, das man anstrebt – K. möch­te ins Schloss – aber auch wirk­lich rich­tig und ver­steht man sei­ne Lebens­um­stän­de über­haupt genau? Sol­che Din­ge wer­den heu­te, wo sich stän­dig so Vie­les grund­sätz­lich ändert, immer zen­tra­ler. Und ent­spre­chen­de Fra­gen sind in all­ge­mei­ner Form auch Grund­fra­gen des Romans.

Sie beschrei­ben das Pro­jekt als „begeh­ba­re musi­ka­li­sche Skulp­tur“. Was ist das?

Jochen Neu­r­a­th: Wenn man den musi­ka­li­schen Teil raus­lässt, wäre eine begeh­ba­re Skulp­tur eine sol­che, die man nicht nur in einem Raum ste­hen sieht, son­dern in der man auch her­um­ge­hen kann. In die­sem Sin­ne sehen wir die Vil­la Des­sau­er und alles, was wir hin­ein­stel­len wer­den, als eine gro­ße Skulp­tur an. Musi­ka­lisch soll die Skulp­tur inso­fern sein, als dass wir einen Klang-Raum in ihr erzeu­gen, der die gan­ze Vil­la durch­dringt und in allen Ecken des Hau­ses immer prä­sent ist. Und je nach­dem, wo man sich befin­det, ändern sich die Klän­ge und die Musik.

Was erwar­tet das Publi­kum auf dem Rundgang?

Jochen Neu­r­a­th: Das Publi­kum wird im Abstand von einer Vier­tel­stun­de in klei­nen Grup­pen eine gute Stun­de lang durch die Vil­la geführt. Auf die­sem Weg soll­te man für Uner­war­te­tes offen sein. Aber wenn man sich dar­auf ein­lässt, wird man in eine Welt mit­ge­nom­men, die man ver­su­chen kann zu ent­zif­fern. Wie K. im Roman macht sich auch das Publi­kum auf eine Rei­se. Dabei scheint es zunächst mög­lich, einen Sinn und eine Rich­tung auf die­ser Rei­se fest­zu­stel­len, dadurch dass man immer mehr Infor­ma­tio­nen dar­über erhält, wie das alles zusam­men­hän­gen könn­te. Am Ende bleibt es aber allen selbst über­las­sen, die Din­ge, die sie wahr­ge­nom­men haben, für sich zu einem geschlos­se­nen Erleb­nis zusam­men­zu­fü­gen oder auch rat­los davor­zu­ste­hen. Es ist wie immer in der Kunst ein Ange­bot weiterzudenken.

Wie sehen die Sta­tio­nen genau aus? Geben sie die Hand­lung des Romans wieder?

Jochen Neu­r­a­th: Nicht mehr als bei nonoi­se sonst auch. Es sind eher Momen­te, Situa­tio­nen oder Sprach­bil­der, die wir zei­gen. Es gibt zum Bei­spiel Sta­tio­nen, bei denen man in einem Raum mit Dar­stel­lern zusam­men ist und deren Akti­vi­tä­ten unmit­tel­bar erlebt und sich teil­wei­se mit­ein­be­zo­gen fühlt oder auch fremd davor steht. Die Situa­tio­nen, die vor­ge­spielt wer­den, könn­ten so ähn­lich im Kos­mos des Romans statt­fin­den, sind ihm aber nicht kon­kret entnommen.

Schlüpft das Publi­kum auf sei­nem Weg durch die Vil­la Des­sau­er in die Rol­le von Land­ver­mes­ser K.?

Jochen Neu­r­a­th: Wenn jemand die­se Rol­le annimmt, kann er sich so füh­len, ja. Es kann aber auch sein, dass sich jemand etwas wei­ter außer­halb fühlt, dann ist er viel­leicht wie ein Leser des Romans – oder ein Leser unse­rer Lesart.

Ist das Stück auf die Betei­li­gung des Publi­kums angewiesen?

Jochen Neu­r­a­th: Nein, das nicht, es ist kein Mit­mach­thea­ter. Es gibt Situa­tio­nen, in denen man sich als Publi­kum ein­bin­den las­sen kann, aber das Stück geht so oder so weiter.

Ändern sich die Situa­tio­nen je nach Reak­ti­on des Publikums?

Jochen Neu­r­a­th: Es wird sicher­lich Abwei­chun­gen in den Publi­kums­re­ak­tio­nen geben, aber das ist in der Arbeit von Regis­seur Frank Düwel ein­ge­plant. In sei­nen Antei­len wird es zwei Schie­nen geben: Einer­seits klar defi­nier­te Abläu­fe und Situa­tio­nen und ande­rer­seits Frei­heit und Offen­heit dafür, wie man mit bestimm­ten Reak­tio­nen umgeht. Es wird also impro­vi­sa­to­ri­sche Antei­le geben, aber das meis­te ist gescripted.

Sie spra­chen vor­hin von einem Kaf­ka-Gefühl. Der Roman erzeugt das­sel­be durch The­ma­ti­ken des Schei­tern oder Ver­lo­ren­ge­hens in Büro­kra­tie. Wie gehen Sie dar­auf ein?

Jochen Neu­r­a­th: Der Reiz an Kaf­kas Pro­sa besteht für mich unter ande­rem dar­in, dass mit extrem kla­rer Spra­che Din­ge beschrie­ben wer­den, die man sich zwar plas­tisch vor­stel­len kann, deren Sinn sich aber nicht erschließt. So ähn­lich ver­su­chen wir es auch. Jede Situa­ti­on, die wir in der Vil­la erschaf­fen, jeder Klang und alles Musi­ka­li­sche, das pas­siert, ist voll­kom­men klar und gut ver­ständ­lich. Aber die Fra­ge, ob man dar­in einen Gesamt­sinn, einen erzähl­ba­ren Sinn fin­det, kön­nen wir dem Publi­kum nicht abneh­men. In die­ser Offen­heit ver­su­chen wir, Kaf­ka zu transportieren.

Das klingt, als ob sich das – nicht zuletzt zah­len­de – Publi­kum auf Frus­tra­ti­on und ein Ent­täuscht­wer­den ein­stel­len sollte.

Jochen Neu­r­a­th: Ich wür­de es nicht so her­um sehen. Wir ver­su­chen durch­aus, eine Kunst­schön­heit zu errei­chen – aber nur auf der kon­kre­ten Sin­ne­be­ne. Eine Fra­ge, wie „Was bedeu­tet das?“ las­sen wir jedoch offen, ganz im Sin­ne Kaf­kas. Das ist kei­ne Ent­täu­schung, son­dern hof­fent­lich eine Berei­che­rung. Wenn sich aber jemand im Publi­kum die Fra­ge stellt, was das alles heißt und wie man es gedank­lich durch­drin­gen könn­te, dann ist man schnell an die­ser Wider­sprüch­lich­keit von Kaf­ka und Fra­gen wie: Wor­auf soll das alles hin­aus, fin­det man über­haupt irgend­wo einen Sinn?

Sie haben Ihrer Insze­nie­rung also letzt­lich nichts Ver­steh­ba­res mitgegeben?

Jochen Neu­r­a­th: Doch, doch! Ent­we­der im Sokra­ti­schen Sin­ne des „Ich weiß, dass ich nichts weiß“. Oder im Sin­ne von: Man kann die Schön­heit der Kunst genie­ßen und viel­leicht sind dann vie­le Fra­gen des Lebens unwichtig.

Nicht unris­kant zu hof­fen, dass das Publi­kum die Insze­nie­rung genau­so sieht.

Jochen Neu­r­a­th: Unbe­dingt, aber Kunst ohne Risi­ko ist langweilig.

Was macht Sie zuver­sicht­lich, dass das Publi­kum in der Insze­nie­rung die­sel­be Schön­heit wie Sie erkennt und die­se genießt?

Jochen Neu­r­a­th: Da ver­traue ich ein biss­chen mei­ner künst­le­ri­schen Erfah­rung und dar­auf, dass ich mit nonoi­se schon an sehr ver­schie­de­nen Ästhe­ti­ken gear­bei­tet habe. Dies kann ich hier mit ein­brin­gen. Und dann haben wir ein wun­der­ba­res Team. Alle haben für sich ein Bedürf­nis, ihr Kunst­wol­len einzubringen.

Ein Pro­jekt die­ser Grö­ße zu insze­nie­ren bedarf auch eines gewis­sen Selbst­ver­trau­ens. Was ist die Quel­le des Selbst­ver­trau­ens von nonoise?

Jochen Neu­r­a­th: Wie wahr­schein­lich bei jedem Künst­ler lie­gen auch bei mir Selbst­ver­trau­en und Selbst­zwei­fel sehr nahe bei­ein­an­der und sind untrenn­bar inein­an­der ver­schlun­gen. Gera­de des­we­gen sind Aner­ken­nun­gen von außen, wie der Bergan­za­preis, den nonoi­se 2022 gewon­nen hat, unglaub­lich wich­tig. Sol­che Din­ge sind eine wich­ti­ge Bestä­ti­gung, dass das, was man vor­her viel­leicht ange­zwei­felt hat, zumin­dest nach außen hin nicht so wirkt. Ich ver­su­che immer, Zwei­fel und die Arbeit mit den Mit­wir­ken­den von­ein­an­der zu tren­nen, in dem Sin­ne, dass ich alle mit Begeis­te­rung ein­bin­den will, eben mit dem Bewusst­sein, dass das etwas Tol­les wird. Selbst­zwei­fel sind not­wen­dig und wich­tig, solan­ge sie nicht hem­men. An irgend­ei­nem Punkt der Arbeit muss ich aber die­se Zwei­fel zurück­stel­len und ein­fach das Ensem­ble mitreißen.

Der Roman ist unvoll­endet. Fügen Sie ein Ende hinzu?

Jochen Neu­r­a­th: Die Idee ist, dass man sich am Ende des Rund­gangs der Welt gegen­über anders fühlt. Zusätz­lich hat sich Frank Düwel eine sehr char­man­te Lösung aus­ge­dacht, die Offen­heit des Inhalts noch ein­mal fürs Ende aufzugreifen.

„Wei­ter weg von All­tags­spra­che kann man kaum sein“

nonoi­se und TiG zei­gen Ril­kes „Dui­ne­ser Elegien“

Rai­ner Maria Ril­kes zehn­tei­li­ges Gedicht­werk „Dui­ne­ser Ele­gi­en“ ist in sei­ner sprach­li­chen Kom­ple­xi­tät und sei­nen ver­schlun­ge­nen Gedan­ken­gän­gen wie geschaf­fen für eine Inter­pre­ta­ti­on durch das expe­ri­men­tal-musi­ka­li­sche Pro­jekt nonoi­se. Zusam­men mit dem Thea­ter im Gärt­ner­vier­tel bringt nonoi­se-Lei­ter Jochen Neu­r­a­th die „Ele­gi­en“ im Mai in der Johan­nis­ka­pel­le auf die Büh­ne. Ab Mai wird er gleich­zei­tig Ver­mie­ter die­ses Ver­an­stal­tungs-Ortes sein. Wir haben mit Jochen Neu­r­a­th (hier im Stadt­echo-Fra­ge­bo­gen) über das neue Stück und den neu­en Kul­tur-Ort gesprochen.
Herr Neu­r­a­th, wie kam die Koope­ra­ti­on mit dem Thea­ter im Gärt­ner­vier­tel zustande?

Jochen Neu­r­a­th: Letz­tes Jahr hat­te sich Nina Lorenz, die Lei­te­rin des TiG, die nonoi­se-Auf­füh­rung des Hei­ner Mül­ler Stücks „Quar­tett“ ange­schaut – eine Insze­nie­rung, in der ich zum ers­ten Mal aus­gie­big mit Spra­che gear­bei­tet habe. Eigent­lich bestand die gesam­te Insze­nie­rung aus Spra­che als musi­ka­li­scher Aus­druck. Danach kamen Nina und ich ins Gespräch, unter ande­rem über eine mög­li­che Zusammenarbeit.

Was prä­de­sti­niert nonoi­se und das Thea­ter im Gärt­ner­vier­tel für eine Zusammenarbeit?

Jochen Neu­r­a­th: Ich fin­de es inter­es­sant, mei­ne Art, sprach-musi­ka­lisch zu den­ken, einem thea­tral inter­es­sier­ten Publi­kum wie dem des TiG nahe­zu­brin­gen. Außer­dem arbei­tet auch das TiG oft mit sehr redu­zier­ten Mit­teln, zum Bei­spiel was Büh­nen­bild oder Kos­tü­me angeht. Ich den­ke also, dass das Publi­kum des Thea­ters schon gewohnt ist, im blo­ßen Spiel der Dar­stel­ler, ohne viel Show drum­her­um, viel zu erken­nen. Denkt man vom Thea­ter her, geht die Insze­nie­rung der „Ele­gi­en“ aber noch ein Stück wei­ter als die übli­chen TiG-Pro­duk­tio­nen. Damit kön­nen wir von nonoi­se viel­leicht mehr als bis­her ein thea­ter­af­fi­nes Publi­kum ansprechen.

War­um haben sie dafür die „Dui­ne­ser Ele­gi­en“ von Rai­ner Maria Ril­ke ausgewählt?

Jochen Neu­r­a­th: Als Kom­po­nist Lyrik zu ver­to­nen, ist schon immer ein zen­tra­les The­ma mei­ner Arbeit gewe­sen. Bei der Recher­che mög­li­cher Text­grund­la­gen für eine neue Pro­duk­ti­on stieß ich auf die „Dui­ne­ser Ele­gi­en“. Sie waren mir auch dar­um auf­ge­fal­len, weil sie genau vor 100 Jah­ren erschie­nen sind. Ihre Ent­ste­hungs­zeit, eine Pha­se gro­ßer Ver­un­si­che­rung in Euro­pa, hat viel mit unse­rer jet­zi­gen Zeit zu tun. Ril­ke schrieb die „Ele­gi­en“ wäh­rend des 1. Welt­krie­ges. Außer­dem ist Ril­kes Werk aus dem Grund für mich fas­zi­nie­rend, weil es immer zwei Sei­ten hat. Einer­seits gibt es den etwas betu­li­che­ren Ril­ke, den wir aus dem Schul­un­ter­richt ken­nen, bei dem ich aber oft nicht ando­cken kann. Ande­rer­seits gibt es den spä­ten Ril­ke, zum Bei­spiel eben den der „Ele­gi­en“, der an der Schwel­le zur Moder­ne steht. In so einer Umbruchs­pha­se steckt für mei­nen Ansatz künst­le­risch viel drin.

Zum Bei­spiel?

Jochen Neu­r­a­th: Die Spra­che der „Dui­ne­ser Ele­gi­en“ ist eine hoch­ar­ti­fi­zi­el­le: Wei­ter weg von All­tags­spra­che kann man kaum sein. Es ist eine gedank­lich sehr ver­tief­te, mit unglaub­lich ver­dich­te­ten Bil­dern wir­ken­de Spra­che. Einen sol­chen Ima­gi­na­ti­ons­raum ver­su­chen auch nonoi­se-Pro­duk­tio­nen immer zu bie­ten. Er ist ide­al dafür, ihn in Ruhe in einer Umge­bung wie der Johan­nis­ka­pel­le auf sich wir­ken zu lassen.

Ihre Hei­ner Mül­ler-Insze­nie­rung, die auf Instru­men­te ver­zich­te­te und nur die Stim­men des Ensem­bles als Klang­quel­len nutz­te, war ein Schritt weg von musi­ka­li­schen Antei­len in nonoi­se-Insze­nie­run­gen. Was für ein Schritt ist die Insze­nie­rung der „Dui­ne­ser Elegien“?

Jochen Neu­r­a­th: Ich wür­de „Quar­tett“ nicht als einen Schritt weg von musi­ka­li­schem Den­ken bezeich­nen, denn für mich ist Spra­che immer auch Musik – abge­se­hen natür­lich von den Bedeu­tun­gen ihrer Wor­te. Sie ist Klang und Rhyth­mus, und genau­so eine Anspra­che ans Publi­kum wie es Musik und Töne sind. Anders als das genu­in thea­tra­le „Quar­tett“, sind die „Ele­gi­en“ aber ganz Gedan­ken-Lyrik. Ihre Spra­che ist aber stark rhe­to­risch auf­ge­la­den und macht sich her­vor­ra­gend, wenn man sie zum Klin­gen bringt.

In der Ankün­di­gung der Auf­füh­rung schrei­ben Sie von neu­en Akzen­te in der Umset­zung. Was heißt das?

Jochen Neu­r­a­th: Bei „Quar­tett“ hat­ten wir noch den Ansatz, die Spra­che extrem sti­li­siert zu ver­wen­den, zum Bei­spiel durch Pas­sa­gen, die in der­sel­ben gleich­blei­ben­den Ton­hö­he oder rhyth­mi­siert vor­ge­tra­gen wur­den. Dies­mal wer­den wir uns ganz den Satz­me­lo­dien und dem Sprach­rhyth­mus Ril­kes anver­trau­en. Dafür gibt es zwei live spie­len­de Instru­men­te – Ste­fan Gold­bach am Kon­tra­bass und Franz Trö­ger an der Orgel – die ihrer­seits eine ande­re Klang­grund­la­ge für die Spra­che beisteuern.

Aus dem Schau­spiel-Ensem­ble des TiG nimmt aller­dings nie­mand an der Insze­nie­rung teil. Wäre das Enga­ge­ment dann doch zu thea­ter­fern gewesen?

Jochen Neu­r­a­th: Das hat­te orga­ni­sa­to­ri­sche Grün­de. Wir hat­ten die Zusam­men­ar­beit erst sehr spät für die­se Sai­son fest­ge­legt und die Dar­stel­ler, die in Fra­ge gekom­men wären, waren bereits in ande­ren Pro­duk­tio­nen gebun­den. Dar­um habe ich wie­der auf das Ensem­ble zurück­ge­grif­fen, das sich weit­ge­hend aus der Hei­ner Mül­ler-Pro­duk­ti­on erge­ben hat­te. Über Ver­mitt­lung des Thea­ters im Gärt­ner­vier­tel sind dann aber doch noch die bei­den Musi­ker Gold­bach und Trö­ger dazugekommen.

Eine deut­lich erkenn­ba­re Hand­lung haben die „Dui­ne­ser Ele­gi­en“ jedoch nicht. Wie gehen Sie in der Insze­nie­rung damit um?

Jochen Neu­r­a­th: Inner­halb der zehn Ele­gi­en gibt es schon so etwas wie eine gedank­li­che Ent­wick­lung, die wir im Wesent­li­chen auch nach­voll­zie­hen wer­den. Aber es ist eben eine Ent­wick­lung und kei­ne Hand­lung. Des­halb haben wir die Insze­nie­rung auch als Klang­raum ange­kün­digt und nicht als Stück oder Auf­füh­rung. Wir möch­ten das Phä­no­men Spra­che in einer Art Klang­in­stal­la­ti­on im Raum spür­bar machen und so die inne­ren Anlie­gen und Nöte der Ver­un­si­che­rung in Kriegs­zei­ten, die Ril­ke in die­sen Gedich­ten for­mu­lier­te, unmit­tel­bar auf das Publi­kum wir­ken zu lassen.

Sie sind jetzt auch der neue Ver­mie­ter des Spiel­or­tes, der Johan­nis­ka­pel­le. Wie kam es?

Jochen Neu­r­a­th: Ich war dort selbst schon häu­fi­ger Mie­ter, zum Bei­spiel auch mit nonoi­se. Als es klar wur­de, dass sich der bis­he­ri­ge Ver­mie­ter, der Freun­des­kreis St. Johan­nis e.V., auf­löst, weil der Sat­zungs­zweck der Sanie­rung der Kapel­le erfüllt war, kam man mit der Fra­ge auf mich zu, ob ich nicht die Kapel­le wei­ter­füh­ren könn­te. Am 1. Mai beginnt das Miet­ver­hält­nis und ich bin mit nonoi­se gleich mein eige­ner ers­ter Mie­ter. Das ist ein schö­ner Zufall, aber län­ger­fris­tig auch eine Her­aus­for­de­rung, die Kapel­le als Ort für Kul­tur viel prä­sen­ter zu machen als bisher.

Hat sich ent­spre­chend der wirt­schaft­li­cher Stand von nonoi­se mitt­ler­wei­le geän­dert, zum Bei­spiel inso­fern, als dass Sie nun, im Gegen­satz zu frü­he­ren Insze­nie­run­gen, Ihrem Ensem­ble Gagen zah­len können?

Jochen Neu­r­a­th: Ja, durch die Zusam­men­ar­beit mit dem TiG und mei­nem Bergan­za-Preis im letz­ten Jahr hat sich die Aus­gangs­la­ge ver­bes­sert und nun kann ich mehr als die bis­he­ri­gen sym­bo­li­schen Gagen zah­len. Das bedeu­tet mir auch sehr viel als Wert­schät­zung für die Arbeit der Beteiligten.

Wo soll es mit der Kapel­le als Ver­an­stal­tungs­ort hingehen?

Jochen Neu­r­a­th: Wenn ich nicht gera­de mit nonoi­se dort etwas ver­an­stal­te, bin ich ledig­lich Ver­mie­ter des Rau­mes, und somit Ermög­li­cher. Aber ich möch­te schon ein Pro­gramm dort hin­ein­brin­gen, das anspruchs­vol­le kul­tu­rel­le Dar­bie­tun­gen beinhaltet.

„Dui­ne­ser Elegien“

4., 5., 10. und 16 Mai, 19:30 Uhr, 14. Mai, 17 Uhr

Johan­nis­ka­pel­le, Obe­rer Ste­phans­berg 7

Nonoi­se-Auf­füh­rung

„Quar­tett“ von Hei­ner Müller

Der Bam­ber­ger Kom­po­nist Jochen Neu­r­a­th hat als Grund­la­ge für das neu­es­te Pro­jekt sei­nes Ensem­bles nonoi­se ein Thea­ter­stück aus­ge­wählt, des­sen redu­zier­te Mach­art dem Mini­ma­lis­mus der eige­nen Wer­ke in nichts nach­steht. Die kon­zer­tan­te Auf­füh­rung des Stücks „Quar­tett“ des Ber­li­ner DDR-Dra­ma­ti­kers Hei­ner Mül­ler hat am 6. Mai Pre­mie­re in der Bam­ber­ger Johanniskapelle.

„Quar­tett“ von Hei­ner Mül­ler (1929 bis 1995) han­delt von den, bezie­hungs­wei­se behan­delt die The­men Lust, Unmo­ral, Macht und deren Miss­brauch. Jochen Neu­r­a­ths Ver­to­nung des Tex­tes über­trägt des­sen Dia­lo­ge in ein musi­ka­li­sches Kam­mer­spiel für vier Stim­men. Die­se vier Stim­men gehö­ren Dani­elle Cîm­pean und Cor­ne­lia Mor­gen­roth, Mit­glie­der des nonoi­se-Ensem­bles, und Euge­ni­ya Ersho­va und Alex­an­dra Kaga­nows­ka vom Bam­ber­ger ArtE­ast-Thea­ter.

Wir haben Jochen Neu­r­a­th zum Gespräch getroffen.

Quartett
Jochen Neu­r­a­th, Foto: S. Quenzer
Herr Neu­r­a­th, Sie haben die Pro­duk­ti­on von Quar­tett“ als einen Schritt in künst­le­risch für Sie und für Ihr Pro­jekt nonoi­se neu­es Gelän­de angekündigt. Wor­in besteht das Neue? 

Jochen Neu­r­a­th: Mit der Ästhe­tik, die ich mit nonoi­se ent­wi­ckelt habe, gehe ich bei Quar­tett“ zum ers­ten Mal dezi­diert künst­le­risch auf einen für die Bühne gedach­ten Text zu. Dabei mutie­re ich aber nicht zum Regis­seur, son­dern ver­blei­be trotz­dem in mei­ner Eigen­schaft als Kom­po­nist. Ein Kom­po­nist, der ver­sucht, eine klang­li­che Umset­zung die­ses Tex­tes zu erreichen.

Die Insze­nie­rung wird also kei­ne sze­ni­sche Aufführung des Stücks sein, son­dern aus­schließ­lich eine klangliche?

Jochen Neu­r­a­th: Hei­ner Müller hat in die­sem Text so gut wie kei­ne Sze­nen­an­wei­sun­gen genutzt. Auch in sei­nen eige­nen Regie­ar­bei­ten hat er das Sze­ni­sche im Lau­fe der Zeit mehr und mehr ver­nachlässigt. Ich habe vor Jah­ren, eine Aufführung von Tris­tan und Isol­de“ in Bay­reuth gese­hen, die er insze­niert hat. Da gab so gut wie kei­ne Bühnen­ak­ti­on. Das heißt, ihm war die Musik und das erklin­gen­de Wort viel wich­ti­ger als mehr oder weni­ger bedeu­ten­de Aktio­nen auf der Bühne. So geht es auch uns um das dich­te­ri­sche Wort und des­sen Erklingen.

Den musi­ka­li­schen Aus­druck lie­fert also nur die Spra­che oder wird es auch instru­men­tel­le Pas­sa­gen geben?

Jochen Neu­r­a­th: Genau. Im Wesent­li­chen nur die Spra­che. Wir hören nur die Stim­men der vier Dar­stel­le­rin­nen. Wenn ich für mei­ne Kom­po­si­tio­nen Spra­che benut­ze, ist es für mich immer ein dich­te­ri­scher Ansatz­punkt, die Spra­che eigent­lich schon jen­seits der Bedeu­tung ihrer Wor­te als Musik zu emp­fin­den. Ich höre zum Bei­spiel wahn­sin­nig ger­ne Leu­ten zu, die in mir unbe­kann­ten Spra­chen reden, und genie­ße dabei ein­fach ger­ne die Melo­die und dem Rhyth­mus ihrer Sätze zu.

Sie spra­chen im Vor­feld auch von ungewöhnli­chen Kon­stel­la­ti­on, die Quar­tettr Sie dar­stellt. Warum?

Jochen Neu­r­a­th: Es sind meh­re­re ungewöhnli­che Kon­stel­la­tio­nen. Ein­mal die von Hei­ner Müller und mir. Mit sei­nem Namen ist ein­fach ein sehr hoher künst­le­ri­scher Anspruch ver­bun­den. Dem ver­su­che ich, zumin­dest halb­wegs, gerecht zu wer­den. Die ande­re ungewöhnli­che Kon­stel­la­ti­on besteht dar­in, dass wir von nonoi­se mit dem ArtE­ast-Thea­ter zusammenarbeiten.

Wie kam es zu die­ser Kooperation?

Jochen Neu­r­a­th: Ich bin begeis­ter­ter Fan von ArtE­ast, seit ich vor zwei Jah­ren die Aufführung „Dos­to­jew­ski Trip“ gese­hen habe. Ich war voll­kom­men hin und weg, mit wel­cher Ener­gie und künst­le­ri­schem Mut die Grup­pe arbei­tet. Und auch persönlich hat­te ich sofort einen Draht zu den Leu­ten. Außer­dem hat­te ich für mei­nen Mayröcker-Abend, als wir von nonoi­se Tex­te von Frie­de­ri­ke Mayröcker ver­tont haben, schon mit dem ArtE­ast-Mit­glied Alex­an­dra Kaga­nows­ka zusam­men­ar­bei­tet. Für „Quar­tett“ ist zusätzlich noch Euge­ni­ya Ersho­va dabei. Wir haben jetzt also zwei Leu­te von ArtE­ast und mit Dani­elle Cîmpean und Cor­ne­lia Mor­gen­roth zwei Ensem­ble­mit­glie­der von nonoi­se. Außer­dem dach­te ich mir, dass wir durch die Zusam­men­ar­beit nicht nur das nonoi­se-Publi­kum, son­dern viel­leicht auch das Publi­kum von ArtE­ast anspre­chen können.

War­um haben Sie für das neue nonoi­se-Pro­jekt Quar­tett“ aus­gewählt?

Jochen Neu­r­a­th: Das hat auch meh­re­re Gründe. Erst­mal spricht mich sei­ne unglaub­lich kon­zi­se Dich­tung und Spra­che an. Dann gibt es einen indi­rek­ten persönli­chen Bezug. Ich habe lan­ge Jah­re in Ber­lin gewohnt und vie­le Stücke an Hei­ner Müllers alter Wir­kungsstätte, der Volksbühne, gese­hen. Zeit­wei­se hat­te ich dort auch selbst zu tun in einem Stück war ich Bühnen­mu­si­ker. Dadurch habe ich vie­le Leu­te ken­nen­ge­lernt, die noch mit Hei­ner Müller zusam­men­ge­ar­bei­tet haben und ich konn­te sozu­sa­gen sei­nen Geist über­all spüren. Ich habe mich auch inten­siv mit ihm aus­ein­an­der­ge­setzt. Quar­tett“ ist wie­der­um eines von Müllers zugängli­che­ren Stücken. Es ist in sei­ner Dra­ma­tik klar greif­bar. Das war mir wich­tig, weil wir eben die Dra­ma­tik nicht durch Bühnen­ak­tio­nen unterstützen, son­dern das ganz über die Spra­che machen. Dann hat Müller für das Stück die über­ra­schen­de Kon­stel­la­ti­on gewählt, trotz dem Titel nur zwei Per­so­nen auf­tre­ten zu las­sen. Die­se bei­den spie­len aber tatsächlich ins­ge­samt vier ver­schie­de­ne Rol­len teil­wei­se auch sich gegen­sei­tig. In die­sem Loslösen des Spie­lers von der spie­len­den Per­son, was ja aus der Brecht-Tra­di­ti­on kommt, gehen wir aber noch einen Schritt wei­ter. Wir ver­tei­len den gan­zen Text auf vier Spre­che­rin­nen, die dann in ihren ver­schie­de­nen Kon­stel­la­tio­nen die ver­schie­de­nen Figu­ren­kon­stel­la­tio­nen nachstellen.

Wäre das im Sin­ne von Hei­ner Müller, der ja nur zwei Bühnen­per­so­nen vor­ge­se­hen hatte?

Jochen Neu­r­a­th: Ja, ich den­ke schon. Er hat sel­ber ein­mal Quar­tett“ insze­niert und dar­in noch zwei wei­te­re Mit­spie­ler, auch wenn sie kei­nen Text hat­ten, auf die Bühne gestellt. Auch sonst war er, wenn er insze­nier­te und es ihm nst­le­risch not­wen­dig schien, sehr frei mit der jewei­li­gen Vor­la­ge. Was wir machen, ist schon ein Ein­griff in das künst­le­ri­sche Kopn­zept von Hei­ner Müller, kei­ne Fra­ge. Aber er ist mit dem Roman, Gefährli­che Lieb­schaf­ten“ von Cho­der­los de Laclos, der die Vor­la­ge für „Quar­tett“ abgab, auch sehr frei ver­fah­ren. Das ist unter ande­rem dar­an erkenn­bar, dass er den Roman über­lie­fer­ter­wei­se nicht mal ganz gele­sen hat. Somit haben wir sein Stück sehr viel gründli­cher gele­sen als er den Roman las. Davon aus­ge­hend haben wir uns die künst­le­ri­schen Frei­heit erlaubt, das Per­so­nal zu erweitern.

Gilt Ähnli­ches bei der Fra­ge, wie­so Sie aus­schließ­lich Frau­en besetzt haben? In der Vor­la­ge kommt mit der Figur Val­mot ein Mann vor.

Jochen Neu­r­a­th: Ja. Ähnlich, wie Hei­ner Müller die Gren­zen der ver­schie­de­nen Persönlich­kei­ten oder Per­so­nen auf der Bühne auflöst und sie ver­schie­de­ne Figu­ren spie­len lässt so dass wir schon einen rela­tiv klei­nen Schritt von der Zwei­zahl zur Vier­zahl hat­ten so löst er auch die Gren­zen der Geschlech­ter auf. Während die Figu­ren im Stück ande­re Figu­ren spie­len, spie­len sie dabei auch durch­aus Figu­ren des ande­ren Geschlechts. Bei sozu­sa­gen klas­si­sche­ren Insze­nie­run­gen des Stücks bie­tet das immer einen gro­ßen Raum für Tra­ves­tie oder Kli­schees. Die­se Din­ge fin­de ich zwar grund­le­gend wit­zig, aber sie sind nicht, was uns hier inter­es­siert. Ich woll­te das Geschlech­ter­verhältnis nicht in den Vor­der­grund stel­len, son­dern die grundsätzli­che Grau­sam­keit des Men­schen dem Men­schen gegenüber. Dar­um habe ich vier Men­schen glei­chen Geschlechts besetzt, um noch eine grö­ße­re Ver­all­ge­mei­ne­rung rein­brin­gen zu können. Dies auch, um, vom musi­ka­li­schen Stand­punkt her, eine gemein­sa­me Stimm­la­ge haben zu können.

Es geht unter ande­rem um toxi­sche Bezie­hun­gen: Woll­ten Sie gezielt die­ses Stück insze­nie­ren oder haben Sie ein Stück gesucht, mit dem Sie die­se The­ma­tik illus­trie­ren können?

Jochen Neu­r­a­th: Es war tatsächlich erst das Stück sel­ber. Toxi­sche Bezie­hung ist aber viel­leicht etwas zu kurz gegrif­fen. Es geht all­ge­mein um die Gewalt, die Men­schen ein­an­der antun in die­sem Fall mas­kiert als Verführung und schein­ba­re Zunei­gung. Das sehr pes­si­mis­ti­sche Men­schen­bild des Stücks, das auch sehr gewalt­grun­diert ist, scheint mir auch gut in die heu­ti­ge Zeit zu pas­sen auch, wenn ich es schon aus­gewählt hat­te, bevor der Ukrai­ne­krieg los­ging. Aber, dass Men­schen häufig gera­de nicht edel, gut und hilf­reich“, wie es bei Goe­the heißt, zuein­an­der sind, ist glau­be ich eine Erkennt­nis, die man lei­der schon vor­her gewin­nen konnte. 

Ein Stück ohne Sze­nen, ver­tont durch nonoi­se, ein musi­ka­li­sches Ensem­ble, bekannt für sei­nen klang­li­chen Mini­ma­lis­mus. Wie genau wird das Publi­kum hinhören müssen?

Jochen Neu­r­a­th: Die Mit­tel sind tatsächlich und bewusst sehr redu­ziert. Aber das kennt das nonoi­se-Publi­kum schon aus früheren Aufführun­gen, wo wir auch mit sehr gerin­gen Mit­teln gear­bei­tet haben. Die­se Mit­tel ver­su­che ich, immer so kon­zi­se und genau ein­zu­set­zen, dass sich dar­aus eine Span­nung ergibt, die sich auch ohne viel Spek­ta­kel überträgt. Es wird nicht mini­ma­lis­tisch im Sin­ne von spröde, son­dern im Sin­ne von sehr genau und sehr auf Detail hin gear­bei­tet. Es wird in die­ser Genau­ig­keit, wenn ich das so sagen darf, ein­fach geil.

Wer­den Sie selbst auf der Bühne in Erschei­nung treten?

Jochen Neu­r­a­th: Ich wer­de in der Aufführun­gen höchs­tens die Musik­ein­spie­lun­gen machen, aber ansons­ten still in der Ecke sitzen.

Euge­ni­ya Ersho­va ist neben ihrer Mit­glied­schaft bei ArtE­ast auch Sänge­rin der Bam­ber­ger Punk-Band Sex­ge­wit­ter. Dort trägt sie, nach eige­nen Anga­ben, Gschrei“ bei. Ein Indiz für laut­star­ke Pas­sa­gen in der Inszenierung?

Jochen Neu­r­a­th: Bevor ich sie ken­nen­ge­lernt habe, hieß es immer: Das ist die, die in Bam­berg am lau­tes­ten schrei­en kann. Das ist für „Quar­tett“ unbe­dingt zuträglich! Wir hei­ßen zwar nonoi­se, aber es kann Momen­te geben, in denen es laut wird. Wir haben mit Dani­elle Cîmpean ja auch eine aus­ge­bil­de­te Opernsänge­rin. Es wird in der Insze­nie­rung also Momen­te geben, in denen jede Dar­stel­le­rin ihr jewei­li­ges Vermögen in exten­so ein­brin­gen wird. Für den Groß­teil der Insze­nie­rung ver­su­chen wir aber, alle vier auf ein Level zu brin­gen. Ich hof­fe, dass das Können der einen Dar­stel­le­rin Din­ge bei den ande­ren frei­setzt und wir so ein ziem­lich hohes Level errei­chen.

Auf­tritts­ort ist wie schon bei Echo­es of unborn thoughts, dem ers­ten Stück von nonoi­se, die Bam­ber­ger Johan­nis­ka­pel­le. Damals hat­te der Raum der Kapel­le eine Rol­le in der Insze­nie­rung, indem immer wie­der an Wänden oder Gegenstände bei­spiels­wei­se geklopft oder gekratzt wur­de. Wer­den Sie die Kapel­le auch für „Quar­tett“ mit­ein­be­zie­hen?

Jochen Neu­r­a­th: Die Insze­nie­rung wird, wie es bei nonoi­se immer der Fall ist, auch eine Art Raum­in­stal­la­ti­on sein. Mit der Johan­nis­ka­pel­le, als ehe­mals geist­li­chem Ort, gibt es zudem inso­fern einen beson­de­ren Bezug zum Stück, als dass zwei der Verführungs­op­fer, die vor­kom­men, eine star­ke Bin­dung an die Kir­che haben, ein­mal in Form von tat­säch­li­cher Gläu­big­keit, ein­mal durch das Auf­wach­sen in einem Klos­ter. Das hat bei die­ser Figur aller­dings kei­ne tie­fe­ren Spu­ren von Fröm­mig­keit hinterlassen.

“Wir wer­den mas­siv Klang in die Kir­che setzen”

“infer­NO!” von nonoise

Für das neu­es­te Werk sei­nes Ensem­bles nonoi­se hat sich Kom­po­nist Jochen Neu­r­a­th der “Gött­li­chen Komö­die” von Dan­te Ali­ghie­ri (1265 bis 1321) ange­nom­men. Der Todes­tag des ita­lie­ni­schen Dich­ters jährt sich 2021 zum 700. Mal. Zusam­men mit neun Dar­stel­le­rin­nen und Dar­stel­lern und sie­ben Mit­glie­dern des Posau­nen­chors von St. Ste­phan prä­sen­tiert nonoi­se am 8. und 9. Okto­ber in St. Otto eine gewohnt unge­wöhn­li­che musi­ka­lisch-zeit­ge­nös­si­sche Bear­bei­tung von Dan­tes Beschrei­bung der Jen­seits­rei­se durch Höl­le, Fege­feu­er und Para­dies. Wir haben Jochen Neu­r­a­th interviewt.
Herr Neu­r­a­th, war­um haben Sie für Ihre jüngs­te Kom­po­si­ti­on von nonoi­se “Die Gött­li­che Komö­die” von Dan­te Ali­ghie­ri zur Grund­la­ge genommen?

Jochen Neu­r­a­th: Ein­mal gibt es einen äußer­li­chen Anlass, sich dem Werk zu wid­men, denn 2021 jährt sich Dan­tes Todes­tag zum 700. Mal. Ich fin­de aller­dings, dass die­ses Datum – zumin­dest in Deutsch­land – öffent­lich rela­tiv wenig Wider­hall fin­det. Das macht es für mich aber umso inter­es­san­ter. “Die gött­li­che Komö­die” ist Dan­tes Haupt­werk, das Werk, das ihn berühmt gemacht hat und einen sehr frü­hen Gip­fel der euro­päi­schen Lite­ra­tur dar­stellt. Die Fas­zi­na­ti­on die­ses Gedichts liegt nicht nur ein­fach in sei­nen Beschrei­bun­gen dras­ti­scher Höl­len­stra­fen und des Infer­nos, son­dern auch in dem unglaub­lich stren­gen for­ma­len Auf­bau. Das gesam­te Gedicht ist in drei Tei­le geglie­dert – Höl­le, Fege­feu­er und Para­dies –, die wie­der­um in Grup­pen von drei Tei­len auf­ge­baut sind, von denen jeder wie­der­um 33 Ein­zel­tei­le, bezie­hungs­wei­se Ein­zel­ge­sän­ge, hat. Ich glau­be, ohne die­se Glie­de­rung wäre das Gedicht ledig­lich ein inter­es­san­ter lite­ra­ri­scher Bei­trag aus dem spä­ten Mit­tel­al­ter, den nur die Lite­ra­tur­wis­sen­schaft kennt. Durch die­se Struk­tur und die sehr zen­tra­le Rol­le der Zahl 3 wird der Text auch als Grund­la­ge für eine musi­ka­li­sche Kom­po­si­ti­on von nonoi­se reiz­voll. Für das Stück haben wir den Auf­bau in sehr vie­le Aspek­te ein­ge­hen las­sen. Das Stück besteht auch aus drei Tei­len, die sich an der Struk­tur des Tex­tes ori­en­tie­ren. Die Zahl 3 kommt immer wie­der vor: Wir haben neun, also drei mal drei, Dar­stel­le­rin­nen und Dar­stel­ler, und bestimm­te Din­ge pas­sie­ren genau dreimal.

Wie stellt man die Höl­le musi­ka­lisch dar?

Jochen Neu­r­a­th: Der Höl­le und dem Fege­feu­er habe ich Dis­so­nan­zen und 12-Ton-Rei­hen zuge­ord­net, dem Para­dies Kon­so­nan­zen bis hin zum har­mo­ni­schen Drei­klang. Es geht uns aber eigent­lich nicht um die kon­kre­te Dar­stel­lung von Höl­le oder Para­dies. Im Grun­de ist es eine musi­ka­li­sche Fan­ta­sie und Medi­ta­ti­on über die “Gött­li­che Komö­die”. Und hier kommt ein ganz zen­tra­ler Punkt zum Tra­gen: So sehr ich das Stück als Lite­ra­tur bewun­de­re, so sehr habe ich an einem bestimm­ten Punkt Schwie­rig­kei­ten. Denn Dan­te maßt sich an, sozu­sa­gen an Got­tes Stel­le, ver­schie­de­ne Per­so­nen der Höl­le, dem Fege­feu­er und dem Para­dies zuzu­tei­len. Die­se Lust am Bestra­fen und Ver­ur­tei­len tei­le ich nicht. So kommt auch der Titel zustan­de, bei dem wir das “no” von “Infer­no” groß schrei­ben. Wir neh­men also auch eine kri­ti­sche Hal­tung zum Begriff der Sün­de ein, die bestraft wer­den müss­te. Aber auch wenn wir in der Höl­le Dis­so­nan­zen haben und die Dar­stel­ler etwas Nega­ti­ves aus­drü­cken, ist es eher all­ge­mein mensch­lich gedacht und nicht in dem Sin­ne, dass wir die Ewig­keit der Höl­len­stra­fe dar­stel­len. Umge­kehrt sind im Para­dies sehr posi­ti­ve Zustän­de dar­ge­stellt, aber eben auf rein mensch­li­cher Ebe­ne – nicht im Him­mel mit Engeln mit Harfe.

Mit wel­chen Wor­ten haben Sie zu Beginn der Pro­ben die­se, Ihre Absich­ten mit der “Gött­li­chen Komö­die” Ihrem Ensem­ble beschrieben?

Jochen Neu­r­a­th: Tat­säch­lich haben wir nicht mit dem Inhalt­li­chen ange­fan­gen, son­dern mit einer ganz ande­ren Her­aus­for­de­rung. Es gibt bei nonoi­se sehr ver­schie­de­ne Aspek­te, von denen wir aus­ge­hen. Das ist ein­mal die lite­ra­ri­sche Vor­la­ge, ande­rer­seits die Men­schen, die mit­wir­ken und drit­tens der Raum, in die­sem Fall die St.-Otto-Kirche, in dem wir spie­len. Der Innen­raum die­ser Kir­che ist sehr groß. Die Her­aus­for­de­rung zu Beginn der Pro­ben war: Wie fül­len wir die­sen Raum? Das war der Ansatz des Stücks. Erst­mal muss­ten wir den Raum erobern. Wie muss sich das Ensem­ble bewe­gen, wie das Stück klin­gen, damit sie in die­sem Rie­sen­raum wahr­nehm­bar sind?

Ist das Stück somit auf die räum­li­chen Vor­rau­set­zun­gen der Kir­che zugeschnitten?

Jochen Neu­r­a­th: Ja. Das Stück wäre in sei­ner jet­zi­gen Form nie ent­stan­den, wenn es nicht in der Otto-Kir­che ent­stan­den wäre. Beim Kom­po­nie­ren saß ich sehr oft in der Kir­che und habe mir ver­sucht vor­zu­stel­len, was ich dort sehen und hören möch­te und wel­che Klän­ge ich emp­fin­de, wenn ich in der Kir­che bin. Vie­le archi­tek­to­ni­sche Details der Kir­che, ihre Grö­ße und Atmo­sphä­re, sind mit­ein­be­zo­gen und flie­ßen ins Stück ein. Ihre Akus­tik ist sehr spe­zi­ell. Der Nach­hall ist zum Bei­spiel sehr lang. Für Klän­ge, die im Raum ver­schwe­ben sol­len, ist das wun­der­bar, aber für die Spra­che – klei­ne Aus­schnit­te aus Dan­tes Text ver­wen­den wir im Stück auch – ist es eine gro­ße Herausforderung.

Mit “Infer­NO!” gehen Sie nach Fried­rich Höl­der­lin und Frie­de­ri­ke May­rö­cker zum drit­ten Mal auf das Werk einer Schrift­stel­le­rin bezie­hungs­wei­se eines Schrif­stel­lers ein. Gibt es Din­ge, die Sie musi­ka­lisch mit den ers­ten Bei­den nicht, aber mit Dan­te schon aus­drü­cken können?

Jochen Neu­r­a­th: Ich den­ke schon. Zum Bei­spiel die Grö­ße des The­mas hat das Ensem­ble und mich durch­aus zu künst­le­ri­schen Äuße­run­gen und Ele­men­ten inspi­riert, auf die ich vor­her wahr­schein­lich nicht gekom­men wäre. Die Klang­lich­keit ist sehr viel grö­ßer und mas­si­ver. Ich höre eini­ge Leu­te schon sagen “aber euer Ensem­ble heißt doch nonoi­se”, also “kein Geräusch”. Aber wir wer­den dies­mal schon mas­siv Klang in die Kir­che setzen.

Auch wenn Dan­tes 700. Todes­tag öffent­lich nur wenig began­gen wird, scheint “Die gött­li­che Komö­die” die Jahr­hun­der­te über­lebt zu haben. Wor­in besteht die Zeit­lo­sig­keit des Textes?

Jochen Neu­r­a­th: Ich weiß nicht, ob man wirk­lich von Zeit­lo­sig­keit spre­chen kann. Rela­tiv bald nach ihrem Erschei­nen, etwa ab 1400, geriet die “Gött­li­che Komö­die” in Ver­ges­sen­heit. Erst im Zuge der euro­päi­schen Auf­klä­rung im 18. Jahr­hun­dert trat Dan­te wie­der ins Bewusst­sein. Aus die­ser Zeit datie­ren auch die ers­ten Über­set­zun­gen in ande­re Spra­chen. Aber anschei­nend hat gera­de die ver­zwei­fel­te und sinn­ent­leer­te Lage, die Dan­te sei­nen Gestor­be­nen in der Höl­le zumu­tet, in der Lite­ra­tur des 20. Jahr­hun­derts viel Wider­hall gefun­den. Bei Samu­el Beckett zum Bei­spiel, der in unse­rer heu­ti­gen Exis­tenz eine ähn­li­che Sinn­lee­re wie in Dan­tes Höl­le vermutet.

In den Tex­ten Becketts wer­den dem Publi­kum kaum Mög­lich­kei­ten gege­ben, Sinn zu fin­den. Geben Sie dem Publi­kum Ver­ständ­nis­schlüs­sel der doch sehr abs­trakt anmu­ten­den nonoi­se-Bear­bei­tung an die Hand?

Jochen Neu­r­a­th: Wie gesagt ist “Infer­NO!” kei­ne Dar­stel­lung oder Abbil­dung bestimm­ter Sze­nen der “Gött­li­chen Komö­die”, son­dern eine musi­ka­li­sche Medi­ta­ti­on dar­über. Aber ich den­ke, wir geben dem Publi­kum vie­le Mög­lich­kei­ten, Asso­zia­ti­ons­li­ni­en zu fin­den und das Büh­nen­ge­sche­hen in ein inne­res Bild zu übersetzen.

Hat man mehr von dem Stück, wenn man die “Gött­li­che Komö­die” gele­sen hat?

Jochen Neu­r­a­th: Mit Sicher­heit ist das Lesen der “Gött­li­chen Komö­die” gene­rell ein gro­ßer Gewinn. Es gibt im Stück viel­leicht ein paar ein­zel­ne Ele­men­te, die vom Text inspi­riert sind, aber das grund­le­gen­de Wis­sen, wie der Text auf­ge­baut ist und was pas­siert, ist eigent­lich schon aus­rei­chend, um unser Stück genie­ßen zu können.

Was kön­nen die­je­ni­gen erfah­ren, die den Text nicht gele­sen haben?

Jochen Neu­r­a­th: Ich den­ke, die Gesamt­at­mo­sphä­re eines ernst­haf­ten Aus­ein­an­der­set­zens mit der End­lich­keit und mit den Fra­gen, was nach dem Tod kommt, ist auf jeden Fall spür­bar, auch wenn man den Text nicht gele­sen hat. Es geht um exis­ten­zi­el­le Fragen.

Wie es der Name schon andeu­tet, spielt bei der Musik von nonoi­se auch die Stil­le eine musi­ka­li­sche Rol­le. Wel­che ist es bei “Infer­NO!”?

Jochen Neu­r­a­th: Genau, die Stil­le ist bei nonoi­se immer zen­tral – so auch dies­mal. Sie wird manch­mal dadurch dar­ge­stellt, dass sich die Ensem­ble­mit­glie­der laut­los im Raum bewe­gen. Manch­mal ist sie auch ganz in ihrem Eigen­wert vor­han­den und ein Teil des Stücks. Ich sehe die Stil­le als eine wei­ße Lein­wand, auf die nach und nach die Far­ben und For­men unse­res musi­ka­li­schen Gemäl­des auf­ge­tra­gen werden.

Wel­che Rol­le wer­den Sie im Stück einnehmen?

Jochen Neu­r­a­th: Wäh­rend der Auf­füh­rung kei­ne. Wie bei den vor­he­ri­gen Stü­cken, bin ich auch hier nur Zuschauer.

Gibt es in der “Gött­li­chen Komö­die” eine Ent­spre­chung die­ser Rolle?

Jochen Neu­r­a­th: Dan­te wan­dert als Erzäh­ler des Tex­tes im Text mit ver­schie­de­nen Figu­ren durchs Jen­seits und beschreibt die Rei­se von außen. Die­se Rol­le habe ich sozu­sa­gen inne.

Sie spie­len das Stück zwei­mal. War­um nur so weni­ge Termine?

Jochen Neu­r­a­th: Weil die Otto-Kir­che rie­sig ist. Selbst mit Coro­na-Abstän­den haben wir etwa 120 Plät­ze zur Ver­fü­gung. Und außer­dem fin­de ich die Exklu­si­vi­tät, die ledig­lich zwei Auf­trit­te haben, gar nicht so schlecht.

Je abs­trak­ter ein Werk ist, umso schwie­ri­ger kann das Ver­ständ­nis des­sel­ben sein. Spie­gelt sich die­se Exklu­si­vi­tät in sei­ner Uner­gründ­lich­keit wider?

Jochen Neu­r­a­th: Nein, ich sehe die Exklu­si­vi­tät der Anzahl der Ter­mi­ne nicht im Sin­ne eines Aus­schlie­ßens, son­dern eher als etwas Beson­de­res. Ich ach­te als Kom­po­nist immer dar­auf, auch wenn ich Ele­men­te der Neu­en oder avant­gar­dis­ti­schen Musik benut­ze, dem Publi­kum klar zu machen, war­um es so klingt wie es klingt. Ich ver­su­che immer, das Publi­kum mit in die­se Welt zu neh­men, in der die­se Klän­ge mög­lich sind. Wenn das Publi­kum offen ist, das wahr­zu­neh­men, was es wahr­neh­men kann, und sich davon an die Hand neh­men lässt, hat es die Chan­ce, das Stück genie­ßen zu kön­nen und die inne­re Welt des Stücks sich ent­fal­ten zu sehen.

Ein Werk über eine Rei­se durch die Höl­le bie­tet zwangs­läu­fig ein gewis­ses Spek­ta­kel. Gilt das auch für “Infer­NO!”?

Jochen Neu­r­a­th: nonoi­se ver­sucht oft, sehr dezent mit sei­nen Mit­teln zu sein. Inner­halb die­ses Rah­mens kann man schon von einem Spek­ta­kel spre­chen. Wer aller­dings eine Light Show oder Pyro­tech­nik erwar­tet, wird ent­täuscht wer­den. Wenn man sich auf die lei­sen Töne ein­lässt und ihre Kraft auf sich wir­ken las­sen kann, wird es aber schon spektakulär.

nonoi­se
infer­NO!

8. und 9. Okto­ber
jeweils um 19.30
St. Otto Bamberg

www.nonoisemusic.de

VHS-Ver­an­stal­tung

Eine klang­li­che Büh­ne für Fried­rich Hölderlin

Im März wäre Fried­rich Höl­der­lin 250 Jah­re alt gewor­den. Am 9. und 10. Okto­ber wid­met ihm die Bam­ber­ger VHS eine Urauf­füh­rung des Ensem­bles nonoi­se von Jochen Neu­r­a­th mit dem Titel: Ele­gie. Oder Ode. (An Fried­rich H.). Fazit: Musik für Fortgeschrittene.

Nach über 200 Jah­ren der Inter­pre­ta­ti­on, Insze­nie­rung und Adap­ti­on gibt es, so möch­te man mei­nen, einem Werk wie dem von Lyri­ker Fried­rich Höl­der­lin nicht mehr all­zu viel Neu­es hin­zu­zu­fü­gen. Kom­po­nist Jochen Neu­r­a­th hat es mit sei­nem Ensem­ble nonoi­se trotz­dem ver­sucht. Her­aus­ge­kom­men ist eine hoch­abs­trak­te Ver­schmel­zung zeit­ge­nös­si­scher Klang­ge­bil­de mit Gedich­ten Höl­der­lins. Wir haben mit Jochen Neu­r­a­th gesprochen. 

Friedrich Hölderlin: Jochen Neurath
Jochen Neu­r­a­th, Foto: S. Quenzer
Herr Neu­r­a­th, was ist Ihre per­sön­li­che Bezie­hung zu Fried­rich Hölderlin?

Jochen Neu­r­a­th: Der äuße­re Anlass für die Urauf­füh­rung ist sein 250. Geburts­tag, der inne­re besteht dar­in, dass er mich schon seit Jugend­jah­ren, seit­dem ich mich für Musik und Lite­ra­tur inter­es­sie­re, beglei­tet. Außer­dem habe ich der Schu­le ein biss­chen Alt­grie­chisch gelernt, aus des­sen Dich­tung und Mytho­lo­gie Höl­der­lin in sei­nen Gedich­ten sehr viel schöpft. Er war für mich immer einer der fas­zi­nie­rends­ten Dich­ter über­haupt und in der Epo­che, in der er gewirkt hat, war er sehr spe­zi­ell und sei­ner Zeit vor­aus. Sei­ne Gedich­te sind der­ma­ßen inten­siv und emo­tio­nal, dass sie mich immer wie­der umhau­en und auf einer ele­men­ta­ren emo­tio­na­len Ebe­ne anspre­chen, wie es sonst eigent­lich nur Musik tut. 

Wor­in besteht der Ansatz­punkt für musi­ka­li­sche Ver­wert­bar­keit sei­ner Gedichte?

Jochen Neu­r­a­th: Fried­rich Höl­der­lin hat eine emi­nent musi­ka­li­sche Spra­che, einen unglaub­li­chen Sinn für Rhyth­mus und Fein­hei­ten des Sprach­klan­ges. Und all das im Ver­bund mit einer span­nend dis­pa­ra­ten Ästhe­tik in sei­nen Gedich­ten. Oft wer­den in einem Gedicht ganz ver­schie­de­ne Bil­der und Vor­stel­lun­gen zusam­men­ge­spannt, die auf den ers­ten Blick nichts mit­ein­an­der zu tun haben, auf einer höhe­ren Ebe­ne aber auf jeden Fall zusam­men­ge­hö­ren. Das wirkt für mich eher wie ein Musik­stück, in dem ein The­ma auf­ge­stellt wird, dann folgt ein kon­tras­tie­ren­des Gegen­the­ma, dann die Zusam­men­füh­rung. Da sehe ich sehr vie­le Bezü­ge zu musi­ka­li­schen Verläufen.

Um wel­che Wer­ke Höl­der­lins wird es kon­kret gehen? 

Jochen Neu­r­a­th: Im Hin­ter­grund wer­den vie­le sei­ner Wer­ke her­um­schwir­ren – oft aber nur ange­stupst. Es geht näm­lich nicht dar­um, ein musi­ka­li­sches Semi­nar zu Höl­der­lin zu machen, son­dern in der Ästhe­tik, die wir mit nonoi­se ent­wi­ckelt haben, dem nach­zu­hor­chen, was Höl­der­lin in der Fer­ne für uns ist. 

Das heißt?

Jochen Neu­r­a­th: Die Welt, in der Fried­rich Höl­der­lin vor 250 Jah­ren gebo­ren wur­de, auch die geis­ti­ge, war eine voll­kom­men ande­re. Die Art, wie Spra­che in der Lyrik benutzt wur­de, hat­te einen voll­kom­men ande­ren Stel­len­wert als heu­te. Das heißt, für mich ist es ein biss­chen so, dass Höl­der­lin heu­te nur noch aus fer­nen Echos wahr­nehm­bar ist. Des­halb wird es nicht ein­fach dicht­ge­packt Höl­der­lin-Text auf Höl­der­lin-Text geben, son­dern vie­le, eher trans­pa­ren­te Klang­flä­chen, in denen ab und zu ein Höl­der­lin-Text durch­scheint. In der Ankün­di­gung haben wir es ein biss­chen spa­ßig mit den Wor­ten zusam­men­ge­fasst „Höl­der­lin war nie in Bam­berg. Wir hor­chen den Echos sei­ner Vor­bei-Rei­sen nach.“ Er war nie hier, ist aber mehr­fach vor­bei­ge­reist und wir hören viel­leicht die Echos des Huf­ge­tram­pels sei­ner Kutschen.

Das klingt alles sehr abs­trakt. Wie wird die Zusam­men­füh­rung von Musik und Lite­ra­tur genau ablaufen?

Jochen Neu­r­a­th: Das Aller­wich­tigs­te im Ensem­ble nonoi­se ist, auf­ein­an­der zu hören. Alle pro­du­zie­ren Klän­ge sel­ber, auf ver­schie­de­nen Instru­men­ten – wel­che, will ich noch nicht ver­ra­ten –, sind sich bewusst, was sie machen, und hören aber auch immer dar­auf, was die ande­ren an Klän­gen bei­steu­ern. Es ent­steht also ein Klang­ge­we­be, das ins­ge­samt eine Auf­merk­sam­keit auf Klän­ge, auf Raum und Echos len­ken und das genaue Hin­hö­ren eta­blie­ren soll. Wenn dann ein paar Wor­te aus einem Höl­der­lin-Gedicht dazu­kom­men, haben die­se eine ganz ande­re Mög­lich­keit auf das Publi­kum zu wir­ken, als wenn sich jemand hin­stellt und ein Gedicht vor­liest. Man könn­te sagen, dass wir für Höl­der­lins Gedich­te eine klang­li­che Büh­ne bereiten.

Wor­te und Musik wer­den also zusam­men­ge­bracht, ohne dass das eine not­wen­di­ger­wei­se aus dem ande­ren her­vor­geht, ohne dass die Musik eine Ver­to­nung der Gedich­te ist? 

Jochen Neu­r­a­th: Genau. Mit unse­ren Klän­gen tra­gen wir die Gedich­te sozu­sa­gen auf den Hän­den und im Grun­de ent­springt das Gan­ze mei­ner Vor­stel­lung, dass Spra­che immer auch einen musi­ka­li­schen Aspekt hat und ich auch gespro­che­ne Spra­che als Musik emp­fin­den kann. Und die­se Anschluss­fä­hig­keit zwi­schen Musik und Spra­che ist bei Höl­der­lin eben beson­ders ausgeprägt. 

Wer­den Sie dem Publi­kum die­se Aus­füh­run­gen vor Beginn der Kon­zer­te auch machen? Besteht ansons­ten nicht das Risi­ko, dass das Publi­kum die genann­ten Zusam­men­hän­ge nicht erkennt?

Jochen Neu­r­a­th: Es wird zu Beginn ein paar Wor­te geben, aber nicht so detail­liert. Aber dar­in sehe ich die Her­aus­for­de­rung an mich als Kom­po­nist und ich ver­traue – ganz unbe­schei­den gesagt – mei­nen kom­po­si­to­ri­schen Erfah­run­gen soweit, das Stück so zu gestal­ten, dass ein kla­rer, nach­voll­zieh­ba­rer for­ma­ler Ablauf vor­han­den und erkenn­bar ist, der die Leu­te mit­trägt und ihrem Ver­ständ­nis Halt gibt. Wir ver­su­chen, eine der­art dich­te Atmo­sphä­re zu erschaf­fen, dass die Leu­te für sich anneh­men kön­nen, was wir machen.

Geben Sie sich Gedan­ken­spie­len hin, wie wohl Fried­rich Höl­der­lin auf Ihre Her­an­ge­hens­wei­se an sei­ne Wer­ke reagiert hätte?

Jochen Neu­r­a­th: Das ist sehr schwer – unter ande­rem eben auch des­we­gen, weil die Zei­ten so grund­le­gend ande­re sind. Die­se Art der musi­ka­li­schen Arbeit, wie ich sie mit nonoi­se ver­su­che, wäre zu Zei­ten Höl­der­lins nicht im Ent­fern­tes­ten denk­bar gewe­sen. Es ist nicht mal bekannt, ob er selbst ger­ne Musik gehört hat und wenn ja, wel­che. Aber viel­leicht hät­te es ihm gefal­len, dass sich die Musik, wie in die­sem Fall, soweit zurück­nimmt, dass sie sei­ne Tex­te fast wie auf Hän­den trägt. 

Ensem­ble nonoise

Ele­gie. Oder Ode. (An Fried­rich H.): Zu Fried­rich Höl­der­lins 250. Geburtstag

9. Okto­ber, 20 Uhr und 10. Okto­ber, 17 Uhr

VHS Bam­berg im Alten E‑Werk

Bit­te vor­her anmel­den unter www.vhs-bamberg.de oder tele­fo­nisch 0951 – 871 108.

www.nonoisemusic.de

Kom­po­nist Jochen Neurath

„Musik ist alles, was die Wahr­neh­mung anregt“

Jochen Neu­r­a­th ist Kom­po­nist zeit­ge­nös­si­scher Musik. Sei­ne Wer­ke stei­gern die ohne­hin radi­ka­len Merk­ma­le des Gen­res mit­un­ter ins Extre­me. Auch Stil­le kann ein musi­ka­li­sches Aus­drucks­mit­tel sein. 
Jochen Neu­r­a­th, Foto: Sebas­ti­an Quenzer

Zeit­ge­nös­si­sche oder Neue Musik ist eine Strö­mung der klas­si­schen Musik, die Anfang des 20. Jahr­hun­derts ent­stand. Sie zeich­net sich vor allem durch eine Abwen­dung bezie­hungs­wei­se Ver­wei­ge­rung von Har­mo­nie, Melo­die und dem Ein­satz her­kömm­li­cher orches­tra­ler Instru­men­te aus. Klang­lich kommt sie aufs ers­te Hören oft dis­har­mo­nisch, sper­rig und unzu­gäng­lich daher. Die­se Ent­schei­dung gegen leich­te Ver­ständ­lich­keit stellt eine Hür­de dar, die zwar absicht­lich hoch­ge­legt wur­de, deren Über­win­dung aber auch unbe­kann­te Hör­erleb­nis­se bie­tet. Schon Arnold Schön­berg, einer der Begrün­der der Neu­en Musik, sag­te: „Wenn es Kunst ist, ist sie nicht für alle, und wenn sie für alle ist, ist sie kei­ne Kunst.“

Unge­wöhn­li­che Klänge

Jochen Neu­r­a­th beschäf­tigt sich schon seit Jugend­ta­gen mit der Neu­en Musik. Noch kei­ne 20 Jah­re alt schrieb er 1985 mit­tels selbst­bei­ge­brach­ten kom­po­si­to­ri­schen Hand­werks­zeu­ges sei­ne ers­te Sym­pho­nie. „Sym­pho­ny of death“ heißt das Jugend­werk. „In der Hybris, die man in die­sem Alter nun mal hat, war es ein Ver­such, mit den Mit­teln der zeit­ge­nös­si­schen Musik – also die, die ich damals kann­te – den Pro­zess des Ster­bens zu gestal­ten und einen Zustand danach zu entwerfen.“

Unab­hän­gig davon, wie um Tief­gang bemüht das Werk geklun­gen haben mag oder muss – es ver­ein­fach­te doch Neu­r­a­ths Weg in ein Musik- und Kom­po­si­ti­ons­stu­di­um in Ber­lin und spä­ter Ham­burg und noch spä­ter in die Selbst­stän­dig­keit als Kom­po­nist. Heu­te umfasst sein Werk meh­re­re Orchester-

stü­cke, Kam­mer­mu­sik, Vokal­kom­po­si­tio­nen, Adap­tio­nen lite­ra­ri­scher Vor­la­gen und eine Oper. Ein Kar­rie­re­high­light war sei­ne Orches­ter­fas­sung der Gold­berg-Varia­tio­nen von Johann Sebas­ti­an Bach, ein Auf­trag von Ric­car­do Chail­ly, die das Gewand­haus­or­ches­ter Leip­zig 2012 urauf­führ­te. Außer­dem ist er Grün­dungs­mit­glied und 2. Vor­sit­zen­der des Ver­eins „Neue Musik in Bam­berg“ und der einen oder dem ande­ren womög­lich durch sei­ne Kon­zer­te auf dem his­to­ri­schen Vor­läu­fer des Kla­viers, dem Cla­vichord, in der Buch­hand­lung Heil­mann bekannt.

Spe­zia­li­siert man sich jedoch in einer sowie­so schon spe­zi­el­len Dis­zi­plin, lässt sich der Lust nach Tief­gang zwar hem­mungs­los frö­nen, mit her­bei­strö­men­den Publi­kums­mas­sen soll­te man aber nicht rech­nen. „Das Sys­tem der klas­si­schen Musik in sei­ner der­zei­ti­gen Form braucht eigent­lich kei­ne Kom­po­nis­ten, weil es sich haupt­säch­lich auf längst gestor­be­ne Kom­po­nis­ten bezieht. Der Musik­be­trieb ist muse­al, die Klas­si­ker wer­den aus­ge­stellt. Bei Neu­er Musik kommt dazu, dass sie sich ziem­lich in eine Sack­gas­se manö­vriert hat und in der öffent­li­chen Wahr­neh­mung prak­tisch kei­ne Rol­le spielt.“ 

Das möch­te Jochen Neu­r­a­th ändern. Neue Musik muss öfter gehört wer­den. Denn durch wie­der­hol­te Begeg­nung kön­nen sich Gewöh­nung und Ver­ständ­nis ein­stel­len. „Ich kann Neue Musik genie­ßen, weil ich mich stän­dig und berufs­mä­ßig mit ihr beschäf­ti­ge. Trotz­dem ist sie auch für mich eine Mög­lich­keit, neu und genau hin­hö­ren zu ler­nen. Ich war immer an neu­en Wegen inter­es­siert, wie sie sonst in der Musik nicht vor­kom­men und mit denen man das Ohr auf eine bestimm­te Wei­se schär­fen kann, sei es durch neue, unge­wöhn­li­che Klän­ge, sei es durch Reduk­ti­on, anhand derer ein ein­zel­ner simp­ler Klang an Bedeu­tung gewinnt – oder sei es durch Stille.“

nonoi­se

Wie sich das anhö­ren, bezie­hungs­wei­se, dass auch etwas dadurch häu­fi­ger zu Gehör gebracht wer­den kann, dass es wenig bis hin zu nichts zu hören gibt, bezie­hungs­wei­se wie umfas­send und rück­sichts­los mit ande­ren Wor­ten Neue Musik musi­ka­li­sche Kon­ven­tio­nen abstrei­fen kann, lässt sich gut an Neu­r­a­ths jüngs­ter Kom­po­si­ti­on „nonoi­se – echo­es of unborn thoughts“ verdeutlichen. 

Als Ein­stieg in die Neue Musik taugt es zwar eher nicht – zu extrem ist sei­ne Kom­po­si­ti­on –, zur Ver­an­schau­li­chung oder Aus­lo­tung der Mög­lich­kei­ten der Neu­en Musik und der Musik über­haupt könn­te es jedoch pas­sen­der nicht sein.

Bis­her ein­mal in der Johan­nis­ka­pel­le auf­ge­führt, bewegt sich „nonoi­se“ zwi­schen Kon­zert und Per­for­mance, ist eine Kom­po­si­ti­on anhand zahl­rei­cher außer­mu­si­ka­li­scher Mate­ria­li­en, die Geräu­sche, Raum, Kör­per und stil­le Pas­sa­gen in sich ver­eint. Die 12 Lai­en-Dar­stel­ler/-Musi­ker bewe­gen sich im Raum, lau­fen zwi­schen den Publi­kums­rei­hen hin und her und erzeu­gen an Wän­den, Boden, Ein­rich­tung und ihren Kör­pern ver­schie­dens­te Geräu­sche. Teil­wei­se, aber kei­nes­falls melo­disch, bedie­nen sie die Orgel, indem sie mit klei­nen eiser­nen Gewich­ten eine Tas­te beschwe­ren, sie so unten- und einen Ton auf­recht­erhal­ten. Oder sie lesen klei­ne Tex­te vor und quet­schen ein Akkor­de­on. „Mit die­ser schein­ba­ren Zusam­men­hangs­lo­sig­keit möch­te ich ver­mit­teln, nicht auf eine mög­li­che Bot­schaft in den Klän­gen, son­dern auf die Klän­ge sel­ber zu hören.“

Schon der Titel deu­tet dar­auf hin, was damit gemeint ist. Das Stück lie­fert ein klang­li­ches Fun­da­ment aus Geräu­schen, Schrit­ten, Stim­men und eini­gen Tönen von Instru­men­ten, auf dem Gedan­ken, Ideen oder Gefüh­le in eine bestimm­te Rich­tung ange­sto­ßen, aber dann nicht wei­ter­ver­folgt wer­den. Wei­ter­füh­ren­de Inter­pre­ta­tio­nen oder indi­vi­du­el­le, mit den Klän­gen ver­bun­de­ne Gefüh­le sol­len sich im Den­ken und Füh­len des Publi­kums einstellen. 

„Das Publi­kum wird durch ver­schie­de­ne Gefühls­si­tua­tio­nen geführt, die sich auf­ein­an­der bezie­hen, als wenn sie eine Erzäh­lung wären. Wenn man die­se Erzäh­lung aber nach­er­zäh­len könn­te, hät­te ich etwas falsch gemacht. Die musi­ka­li­schen Mit­tel, die Sinn­lich­keit der Musik, sol­len für sich spre­chen und die Mög­lich­keit, eine Geschich­te mit­den­ken oder mit­emp­fin­den zu kön­nen, in ihnen nur mitschwingen.“

Zur Ver­deut­li­chung steht Jochen Neu­r­a­th wäh­rend des Inter­views auf, geht zu sei­nem Kla­vier und schlägt einen Ton an. Nach eini­gen Momen­ten ist die­ser natur­ge­mäß wie­der ver­klun­gen. Aber: „Man hat ihn viel­leicht noch im Ohr, im Kopf klingt er wei­ter. Das ist für mich viel wich­ti­ger, als die Tat­sa­che, dass gera­de eine Tas­te gedrückt wurde.“ 

Die Musik geht wei­ter, ohne dass etwas zu hören wäre. Fol­ge­rich­tig­keit ist Gefühls­sa­che. „Die Hörer ver­ste­hen nicht war­um, aber sie spü­ren, dass es rich­tig ist. Wenn sich die­ses Gefühl ein­stellt, ist musi­ka­li­sche Rich­tig­keit da.“ 

Es sei aller­dings ein gefähr­li­ches Feld, weil man banal­er­wei­se nie wis­sen kön­ne, was in den Köp­fen vor­geht. Genug Leu­te gäbe es, die die­se Her­an­ge­hens­wei­se an Musik lang­wei­lig fän­den. Man müs­se schon bereit sein, sich dar­auf ein­zu­las­sen, um nicht zu sagen, das als Musik zu akzep­tie­ren. „Die ers­te Kopf­leis­tung fin­det schon vor dem Hören statt. Es bedarf einer Vor­bil­dung in Emp­find­sam­keit und einer Emp­fäng­lich­keit für Klän­ge oder akus­ti­sche Anregungen.“

Jochen Neu­r­a­th nennt die­se Art der musi­ka­li­schen Ver­äu­ße­rung „Ima­gi­nä­re Musik“. „Das, was im Hörer wei­ter­schwingt, ist für mich im Grun­de die Musik. Die­ses Wei­ter­schwin­gen, die­se Ima­gi­na­ti­on von Musik, fin­de ich oft viel stär­ker als das, was tat­säch­lich erklingt. Ich ver­su­che, die Vor­ga­ben von der Kom­po­nis­ten­sei­te so nied­rig wie mög­lich zu hal­ten, damit das, was im Kopf pas­siert umso lau­ter erklingt. Musik ist alles, was die Wahr­neh­mung anregt.“ 

Dass dies einen sehr groß­zü­gig gefass­ten Begriff des­sen, was Musik sein kann, dar­stellt, weiß Neu­r­a­th. Was ihn aber nicht hin­dert, das, was klingt, noch wei­ter zu redu­zie­ren. In sei­nen Wer­ken und in „nonoi­se“ ganz beson­ders macht nicht nur der rea­le oder ima­gi­nier­te Ton die rea­le oder ima­gi­nier­te Musik. Ent­schei­dend bei­tra­gen kön­nen neben Pas­sa­gen vor­ge­le­se­ner Tex­te auch laut­lo­se Sequen­zen und Bewe­gung von Kör­pern. Wer was wann wo macht. Oder eben nicht. „Bei „nonoi­se“ kön­nen an der einen Sei­te des Rau­mes erzeug­te Töne für mich etwas voll­kom­men ande­res sein als Töne, die von der ande­ren Sei­te kommen.“ 

Inso­fern sei sogar ein Musik­stück in völ­li­ger Stil­le durch­aus vor­stell­bar. Ein Stück, in dem nur immer mal wie­der jemand von A nach B gehe und sich so die Kon­stel­la­tio­nen im Raum ver­än­dern wür­den. Dies wäre ein Musik­stück, das man nicht hören, son­dern nur sehen könn­te – sehen müss­te, um es wahrzunehmen. 

Die Fra­ge, ob ein sol­ches Werk noch als Musik durch­ge­hen könn­te, ist annä­hernd so alt wie die Neue Musik selbst. Und seit­her unbe­ant­wor­tet. Ange­sto­ßen wur­de sie bereits in den 50ern vom ame­ri­ka­ni­schen Kom­po­nis­ten John Cage. Des­sen Werk „4‘33“ sah nichts wei­ter als einen Pia­nis­ten vor, der sich an sein Instru­ment setzt, den Kla­vier­de­ckel öff­net, vier Minu­ten und 33 Sekun­den bewe­gungs­los und vor allem still ver­harrt, um den Deckel dann wie­der zu schlie­ßen und zu gehen. Cage ließ dabei außer­dem offen, ob das Nicht-Erklin­gen des Kla­viers oder zufäl­li­ge Hin­ter­grund­tö­ne wie Stra­ßen­ge­räu­sche oder Räus­pern die musi­ka­li­sche Sub­stanz ausmachen. 

In der Par­ti­tur des Werks herrscht ent­spre­chen­de Lee­re, was sie der Par­ti­tur von „nonoi­se“ ähn­lich macht. Nur, dass sich in zwei­te­rer regie­an­wei­sungs­ar­ti­ge Vor­ga­ben wie „Ziel­stre­big zu Zet­teln an der Wand gehen“ fin­den. „nonoi­se ist aber weder Schau­spiel, noch Per­for­mance. All das, was man wahr­nimmt, hört und sieht, defi­nie­re ich im Kon­text des Stücks als Musik. Auch wenn es ein stil­les Gehen ist oder ein Spre­chen von Text oder zwei sich gegen­über­ste­hen­de Menschen.“

nonoi­se

Nächs­tes Kon­zert: Ele­gie. Oder Ode. (An Fried­rich H.)

(zu Fried­rich Höl­der­lins 250. Geburts­tag), in Zusam­men­ar­beit mit der VHS Bam­berg Stadt

Vor­aus­sicht­lich 9. Okto­ber, 20 Uhr und 10. Okto­ber, 17 Uhr, Kapel­le, Hotel Residenzschloss

Wei­te­re Infor­ma­tio­nen und Anmel­dung zur Mit­wir­kung bei nonoi­se unter: www.nonoisemusic.de