Jochen Neurath ist Komponist zeitgenössischer Musik. Seine Werke steigern die ohnehin radikalen Merkmale des Genres mitunter ins Extreme. Auch Stille kann ein musikalisches Ausdrucksmittel sein.
Zeitgenössische oder Neue Musik ist eine Strömung der klassischen Musik, die Anfang des 20. Jahrhunderts entstand. Sie zeichnet sich vor allem durch eine Abwendung beziehungsweise Verweigerung von Harmonie, Melodie und dem Einsatz herkömmlicher orchestraler Instrumente aus. Klanglich kommt sie aufs erste Hören oft disharmonisch, sperrig und unzugänglich daher. Diese Entscheidung gegen leichte Verständlichkeit stellt eine Hürde dar, die zwar absichtlich hochgelegt wurde, deren Überwindung aber auch unbekannte Hörerlebnisse bietet. Schon Arnold Schönberg, einer der Begründer der Neuen Musik, sagte: „Wenn es Kunst ist, ist sie nicht für alle, und wenn sie für alle ist, ist sie keine Kunst.“
Ungewöhnliche Klänge
Jochen Neurath beschäftigt sich schon seit Jugendtagen mit der Neuen Musik. Noch keine 20 Jahre alt schrieb er 1985 mittels selbstbeigebrachten kompositorischen Handwerkszeuges seine erste Symphonie. „Symphony of death“ heißt das Jugendwerk. „In der Hybris, die man in diesem Alter nun mal hat, war es ein Versuch, mit den Mitteln der zeitgenössischen Musik – also die, die ich damals kannte – den Prozess des Sterbens zu gestalten und einen Zustand danach zu entwerfen.“
Unabhängig davon, wie um Tiefgang bemüht das Werk geklungen haben mag oder muss – es vereinfachte doch Neuraths Weg in ein Musik- und Kompositionsstudium in Berlin und später Hamburg und noch später in die Selbstständigkeit als Komponist. Heute umfasst sein Werk mehrere Orchester-
stücke, Kammermusik, Vokalkompositionen, Adaptionen literarischer Vorlagen und eine Oper. Ein Karrierehighlight war seine Orchesterfassung der Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach, ein Auftrag von Riccardo Chailly, die das Gewandhausorchester Leipzig 2012 uraufführte. Außerdem ist er Gründungsmitglied und 2. Vorsitzender des Vereins „Neue Musik in Bamberg“ und der einen oder dem anderen womöglich durch seine Konzerte auf dem historischen Vorläufer des Klaviers, dem Clavichord, in der Buchhandlung Heilmann bekannt.
Spezialisiert man sich jedoch in einer sowieso schon speziellen Disziplin, lässt sich der Lust nach Tiefgang zwar hemmungslos frönen, mit herbeiströmenden Publikumsmassen sollte man aber nicht rechnen. „Das System der klassischen Musik in seiner derzeitigen Form braucht eigentlich keine Komponisten, weil es sich hauptsächlich auf längst gestorbene Komponisten bezieht. Der Musikbetrieb ist museal, die Klassiker werden ausgestellt. Bei Neuer Musik kommt dazu, dass sie sich ziemlich in eine Sackgasse manövriert hat und in der öffentlichen Wahrnehmung praktisch keine Rolle spielt.“
Das möchte Jochen Neurath ändern. Neue Musik muss öfter gehört werden. Denn durch wiederholte Begegnung können sich Gewöhnung und Verständnis einstellen. „Ich kann Neue Musik genießen, weil ich mich ständig und berufsmäßig mit ihr beschäftige. Trotzdem ist sie auch für mich eine Möglichkeit, neu und genau hinhören zu lernen. Ich war immer an neuen Wegen interessiert, wie sie sonst in der Musik nicht vorkommen und mit denen man das Ohr auf eine bestimmte Weise schärfen kann, sei es durch neue, ungewöhnliche Klänge, sei es durch Reduktion, anhand derer ein einzelner simpler Klang an Bedeutung gewinnt – oder sei es durch Stille.“
nonoise
Wie sich das anhören, beziehungsweise, dass auch etwas dadurch häufiger zu Gehör gebracht werden kann, dass es wenig bis hin zu nichts zu hören gibt, beziehungsweise wie umfassend und rücksichtslos mit anderen Worten Neue Musik musikalische Konventionen abstreifen kann, lässt sich gut an Neuraths jüngster Komposition „nonoise – echoes of unborn thoughts“ verdeutlichen.
Als Einstieg in die Neue Musik taugt es zwar eher nicht – zu extrem ist seine Komposition –, zur Veranschaulichung oder Auslotung der Möglichkeiten der Neuen Musik und der Musik überhaupt könnte es jedoch passender nicht sein.
Bisher einmal in der Johanniskapelle aufgeführt, bewegt sich „nonoise“ zwischen Konzert und Performance, ist eine Komposition anhand zahlreicher außermusikalischer Materialien, die Geräusche, Raum, Körper und stille Passagen in sich vereint. Die 12 Laien-Darsteller/-Musiker bewegen sich im Raum, laufen zwischen den Publikumsreihen hin und her und erzeugen an Wänden, Boden, Einrichtung und ihren Körpern verschiedenste Geräusche. Teilweise, aber keinesfalls melodisch, bedienen sie die Orgel, indem sie mit kleinen eisernen Gewichten eine Taste beschweren, sie so unten- und einen Ton aufrechterhalten. Oder sie lesen kleine Texte vor und quetschen ein Akkordeon. „Mit dieser scheinbaren Zusammenhangslosigkeit möchte ich vermitteln, nicht auf eine mögliche Botschaft in den Klängen, sondern auf die Klänge selber zu hören.“
Schon der Titel deutet darauf hin, was damit gemeint ist. Das Stück liefert ein klangliches Fundament aus Geräuschen, Schritten, Stimmen und einigen Tönen von Instrumenten, auf dem Gedanken, Ideen oder Gefühle in eine bestimmte Richtung angestoßen, aber dann nicht weiterverfolgt werden. Weiterführende Interpretationen oder individuelle, mit den Klängen verbundene Gefühle sollen sich im Denken und Fühlen des Publikums einstellen.
„Das Publikum wird durch verschiedene Gefühlssituationen geführt, die sich aufeinander beziehen, als wenn sie eine Erzählung wären. Wenn man diese Erzählung aber nacherzählen könnte, hätte ich etwas falsch gemacht. Die musikalischen Mittel, die Sinnlichkeit der Musik, sollen für sich sprechen und die Möglichkeit, eine Geschichte mitdenken oder mitempfinden zu können, in ihnen nur mitschwingen.“
Zur Verdeutlichung steht Jochen Neurath während des Interviews auf, geht zu seinem Klavier und schlägt einen Ton an. Nach einigen Momenten ist dieser naturgemäß wieder verklungen. Aber: „Man hat ihn vielleicht noch im Ohr, im Kopf klingt er weiter. Das ist für mich viel wichtiger, als die Tatsache, dass gerade eine Taste gedrückt wurde.“
Die Musik geht weiter, ohne dass etwas zu hören wäre. Folgerichtigkeit ist Gefühlssache. „Die Hörer verstehen nicht warum, aber sie spüren, dass es richtig ist. Wenn sich dieses Gefühl einstellt, ist musikalische Richtigkeit da.“
Es sei allerdings ein gefährliches Feld, weil man banalerweise nie wissen könne, was in den Köpfen vorgeht. Genug Leute gäbe es, die diese Herangehensweise an Musik langweilig fänden. Man müsse schon bereit sein, sich darauf einzulassen, um nicht zu sagen, das als Musik zu akzeptieren. „Die erste Kopfleistung findet schon vor dem Hören statt. Es bedarf einer Vorbildung in Empfindsamkeit und einer Empfänglichkeit für Klänge oder akustische Anregungen.“
Jochen Neurath nennt diese Art der musikalischen Veräußerung „Imaginäre Musik“. „Das, was im Hörer weiterschwingt, ist für mich im Grunde die Musik. Dieses Weiterschwingen, diese Imagination von Musik, finde ich oft viel stärker als das, was tatsächlich erklingt. Ich versuche, die Vorgaben von der Komponistenseite so niedrig wie möglich zu halten, damit das, was im Kopf passiert umso lauter erklingt. Musik ist alles, was die Wahrnehmung anregt.“
Dass dies einen sehr großzügig gefassten Begriff dessen, was Musik sein kann, darstellt, weiß Neurath. Was ihn aber nicht hindert, das, was klingt, noch weiter zu reduzieren. In seinen Werken und in „nonoise“ ganz besonders macht nicht nur der reale oder imaginierte Ton die reale oder imaginierte Musik. Entscheidend beitragen können neben Passagen vorgelesener Texte auch lautlose Sequenzen und Bewegung von Körpern. Wer was wann wo macht. Oder eben nicht. „Bei „nonoise“ können an der einen Seite des Raumes erzeugte Töne für mich etwas vollkommen anderes sein als Töne, die von der anderen Seite kommen.“
Insofern sei sogar ein Musikstück in völliger Stille durchaus vorstellbar. Ein Stück, in dem nur immer mal wieder jemand von A nach B gehe und sich so die Konstellationen im Raum verändern würden. Dies wäre ein Musikstück, das man nicht hören, sondern nur sehen könnte – sehen müsste, um es wahrzunehmen.
Die Frage, ob ein solches Werk noch als Musik durchgehen könnte, ist annähernd so alt wie die Neue Musik selbst. Und seither unbeantwortet. Angestoßen wurde sie bereits in den 50ern vom amerikanischen Komponisten John Cage. Dessen Werk „4‘33“ sah nichts weiter als einen Pianisten vor, der sich an sein Instrument setzt, den Klavierdeckel öffnet, vier Minuten und 33 Sekunden bewegungslos und vor allem still verharrt, um den Deckel dann wieder zu schließen und zu gehen. Cage ließ dabei außerdem offen, ob das Nicht-Erklingen des Klaviers oder zufällige Hintergrundtöne wie Straßengeräusche oder Räuspern die musikalische Substanz ausmachen.
In der Partitur des Werks herrscht entsprechende Leere, was sie der Partitur von „nonoise“ ähnlich macht. Nur, dass sich in zweiterer regieanweisungsartige Vorgaben wie „Zielstrebig zu Zetteln an der Wand gehen“ finden. „nonoise ist aber weder Schauspiel, noch Performance. All das, was man wahrnimmt, hört und sieht, definiere ich im Kontext des Stücks als Musik. Auch wenn es ein stilles Gehen ist oder ein Sprechen von Text oder zwei sich gegenüberstehende Menschen.“
nonoise
Nächstes Konzert: Elegie. Oder Ode. (An Friedrich H.)
(zu Friedrich Hölderlins 250. Geburtstag), in Zusammenarbeit mit der VHS Bamberg Stadt
Voraussichtlich 9. Oktober, 20 Uhr und 10. Oktober, 17 Uhr, Kapelle, Hotel Residenzschloss
Weitere Informationen und Anmeldung zur Mitwirkung bei nonoise unter: www.nonoisemusic.de