Das kostenfreie Gruppenangebot „Wildfang“ der Caritas Bamberg geht im März im Bruderwald in die vierte Runde. Das Projekt richtet sich an Kinder im Alter von 8 bis 12 Jahren, deren Eltern oder nahe Angehörige von Suchterkrankungen betroffen sind. Der Ansatz von „Wildfang“ kombiniert stärkende Naturerfahrungen mit einem sicheren Rahmen fachlich begleiteter ruppeneinheiten.
Schätzungen des NACOA Deutschlands (National Association for Children of Addicts) zufolge leben in Deutschland mindestens drei Millionen Kinder in suchtbelasteten Familien. Alkohol ist dabei die Hauptsubstanz, etwa 2,6 Millionen Kinder haben es mit einer Alkoholsucht ihrer Eltern zu tun. 40.000 bis 60.000 Kinder leben außerdem in Familien mit Elternteilen, die Drogen konsumieren. Ein weiterer Anteil (40.000 bis 150.000) sind Kinder von Elternteilen mit pathologischer Glücksspielsucht. Damit ist ungefähr jedes sechste Kind in Deutschland von einer Suchtbelastung im familiären Umfeld betroffen. Weitere Suchtformen wie Kaufsucht oder Mediensucht sind in den Erhebungen nicht berücksichtigt.
Um Bamberger Kindern aus solchen Familien Hilfe zu bieten, entstand im Jahr 2016 das Naturerlebnis-Projekt „Wildfang“ im Rahmen des Caritas-Arbeitskreises „Schulterschluss“. Dieser sollte auch der besseren Vernetzung von Suchtberatungs-Stellen dienen und setzte sich aus Fachkräften der Gesundheitshilfe sowie der Jugend- und Suchthilfe von Stadt und Landkreis Bamberg zusammen.
Wir haben mit den „Wildfang“-Projektverantwortlichen Tanja Meier vom HaLT Zentrum Bamberg, das angegliedert an das Landratsamts Bamberg Alkoholprävention bei Kindern und Jugendlichen betreibt, und den beiden „Wildfang“-Gruppenleiter:innen, der Psychologin Astrid Heyl von der Caritas Erziehungsberatungsstelle Bamberg sowie dem Wildkräuter- und Wildnispädagogen Robert Scheuring, über die Hintergründe des Projektes, seinen Ablauf und seine Zielsetzung gesprochen.
Wie entstand „Wildfang“ mit seinem Natur-Schwerpunkt? Handelt es sich um ein Novum oder gibt es ähnliche Präventionsprojekte?
Astrid Heyl: Es gibt an verschiedenen deutschen Standorten das unter anderem vom Bundesgesundheitsministerium geförderte und mitentwickelte Präventionsprogramm „Trampolin“, welches sich ebenfalls an Kinder zwischen acht und 12 Jahren richtet. Wir haben uns bei der Entwicklung von „Wildfang“ an den Modulen des Trampolin-Programms orientiert, allerdings unser eigenes Konzept vor allem durch die Verknüpfung von Naturerleben und Indoor-Arbeit entwickelt. Erlebnisse in der Natur unterstützen das Gruppengefühl und die Selbstwirksamkeit der Kinder. Erkenntnisse aus der medizinischen Forschung zu Naturerlebnissen unterstreichen die Bedeutung von Naturerfahrungen zum Beispiel für Entspannung, Kreativität, psychisches Wohlbefinden.
Robert Scheuring: Der Ansatz von Wildfang ist innovativ und basiert auf dem gezielten Wechsel zwischen stärkenden Naturerfahrungen und einem sicheren Rahmen begleiteter Gruppeneinheiten. Dieser Ansatz ermöglicht es den Teilnehmer:innen, sich in einem anderen Rahmen zu bewegen, umfassende Sinneserfahrungen zu machen und soziale Kompetenzen zu entwickeln. Der Einsatz der Naturpädagogik unter freiem Himmel ermöglicht einen qualitativ anderen Zugang zu den Kindern. Im Wald können sich die Kinder austoben, sich erden, zur Ruhe kommen. Wir erleben auch, dass der Zugang zu belastenden Gefühlen und Gedanken leichter möglich wird.
Wie kann man sich das vorstellen?
Robert Scheuring: Ein schönes Beispiel ist das Waldbild. In einer unserer Waldstunden haben die Kinder die Möglichkeit, mit Naturmaterialien wie Kiefernnadeln, Tannenzapfen, Stöcken oder Blättern ein Bild ihrer Familie oder eine Szene ihres Alltags zu legen. Da kommen manchmal sehr intensive Einblicke in ihre Welt zu Tage, die geteilt und besprochen werden können. Ein Kind legte etwa mal einen Stock als Symbol für sich selbst ganz weit abseits seines Bildes, in dem sich der Rest seiner Familie befand. Es fühlte sich aus seinem Familiensystem ausgeschlossen, als nicht dazugehörig. Bei einem anderen Kind tauchten unglaublich viele Naturelemente als Familienmitglieder auf. Über die Symbolebene finden wir Zugang zum subjektiven Erleben der Kinder und können uns austauschen und Hilfen und Lösungsideen aufzeigen. Durch das bewusste Angebot von Naturerfahrungen erhalten die Kinder nicht nur die Möglichkeit, sich auszutoben oder sich zu entspannen und zu regenerieren, sondern auch, sich selbst und andere besser wahrzunehmen. Die natürliche Umgebung dient dabei als förderlicher Rahmen für individuelle Entwicklungsprozesse. Damit verbunden ist auch das Thema Resilienzförderung.
Wie viele Waldtreffen gibt es und wie sind die Gruppeneinheiten konzipiert?
Astrid Heyl: Vor Beginn der Gruppeneinheiten gibt es zunächst ein Vorgespräch mit Kind und Elternteil. Wenn möglich, bieten wir eine Schnupperstunde im Wald vor dem Start an. Aktuell startet „Wildfang“ im März mit einer neuen Gruppe. Das Projekt umfasst sechs Einheiten mit einer Dauer von jeweils zwei bis drei Stunden. Start ist immer im Wald, wo wir in den ersten Stunden beginnen, ein Waldlager zu errichten. Unser Lager symbolisiert Schutz und Sicherheit und die Möglichkeit, selbst daran zu bauen und gemeinsam daran mitzuwirken. Wir beratschlagen zusammen, wie und aus welchem Material wir bauen. Diese Partizipation als grundlegende Haltung begleitet die gesamte Gruppenzeit. Und dann geht’s an Sammeln, Totholz suchen, Äste, Zweige. Dabei findet ein gegenseitiges spielerisches Kennenlernen statt und wir wachsen als Gruppe zusammen und profitieren von den kreativen Ideen aller. Meistens wird dann auch schon das Thema Sucht gestreift. Nicht alle Treffen finden im Wald statt, wir nutzen auch die Beratungs- und Therapieräume im Beratungshaus der Caritas. Hier können wir andere Medien nutzen, erarbeiten Plakate, informieren zum Thema Sucht, analysieren Situationen aus den eigenen Erlebnissen oder Filmen und Büchern.
Wie unterstützt das Projekt den Austausch zwischen den betroffenen Kindern?
Robert Scheuring: „Wildfang“ ist in erster Linie ein erlebnispädagogisches Angebot, bei dem es um Beziehungsarbeit geht, um Vertrauensaufbau, die Kinder lernen sich beim Bauen oder sogar schon beim Ideensammeln über den Lageraufbau untereinander kennen. Im Laufe der Gruppenstunden kommt mal früher, mal später von jeder und jedem einzelnen die Geschichte zu Tage. Bei manchen Kindern haben wir beobachtet, dass es aus ihnen heraussprudelt, manche erzählen erst spät oder nur ganz wenig von ihrem Hintergrund. Aber es kommt immer von ganz alleine. Uns ist ganz wichtig, dass es nicht wie vielleicht in einer Selbsthilfegruppe abläuft, wo sich alle mit Vornamen vorstellen und gleich von ihrer Geschichte berichten. Die Kinder merken: Ich bin nicht alleine, der oder die neben mir ist genauso alt und hat auch so eine ähnliche Erfahrung gemacht wie ich. Das ist äußerst wichtig, da das Thema Sucht sehr tabuisiert ist und Kinder oft keine Möglichkeit haben, sich anzuvertrauen.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Astrid Heyl: Wir hatten ein Mädchen, die mit zu den Ältesten der Gruppen zählte und sich schwergetan hatte, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Sie hat lange gebraucht und erst durch die Erfahrungsberichte der anderen kam es dazu, dass sie sich ganz am Schluss öffnete und sagte, wie doof es ist, dass die Mutter stark alkoholisiert und schlafend auf dem Sofa liege, während sie selbst dann alleine im Wohnzimmer spiele. Durch die Unterstützung der anderen und die Normalität schwieriger Erfahrungen als Kind in einer von Suchterkrankung belasteten Familie traute sich das Mädchen erstmals von ihren Erlebnissen zu berichten und wir entwickelten Hilfsmöglichkeiten. Dazu zählen nicht nur die Ideen aus der Gruppe, die Kinder haben auch immer die Möglichkeit, auch nach Ende der Gruppe in der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern weiter unterstützt zu werden. Im Fall dieses Mädchens kann ich berichten, dass die Mutter mittlerweile eine erfolgreiche stationäre Suchtbehandlung abgeschlossen hat.
Wie viele Kinder haben insgesamt an dem Projekt teilgenommen und was sind die Ziele des Projekts? Inwiefern trägt das Gruppenangebot „Wildfang“ dazu bei, das Bewusstsein für die Herausforderungen von Kindern aus suchtbelasteten Familien zu schärfen?
Astrid Heyl: Insgesamt haben bisher etwa 40 Kinder teilgenommen, der Mädchen- und Jungs-Anteil hält sich die Waage. Wichtig ist uns zu verdeutlichen, dass Wildfang kein Therapieersatz für Kinder mit erheblichen Belastungen oder krankheitswertigen Störungen ist. Es geht darum, Kindern einen sicheren Rahmen zu geben sich zu öffnen. Es geht um Erfahrungsaustausch und generell darum, die Krankheit Sucht zu verstehen: Was macht Sucht mit dem menschlichen Körper, was passiert im Körper, was sind Gründe für eine Sucht?
(Astrid Heyl deutet auf Plakate an der Wand, die die Kinder des letzten Kurses gezeichnet haben. Darauf sind Handys abgebildet und die Kinder haben Symbole gefunden zum Thema „Alles was den eigenen Akku auflädt“, zum Beispiel Freunde treffen, ein Bild malen, Musik hören.)
Astrid Heyl: Über Ressourcenarbeit erweitern wir den Blickwinkel und ermutigen die Kinder ihre Fähigkeiten zu nutzen und auszubauen.
Robert Scheuring: Wir thematisieren auch eigene problematische Verhaltensweisen. Fast alle Kinder antworten auf unsere Nachfrage, ob sie vielleicht auch Probleme damit haben, auf etwas zu verzichten, mit „Handy, Internet und Süßigkeiten.“ Verhalten zu regulieren und gesundes Verhalten zu stärken, ist Anliegen unserer Präventionsarbeit. Wir klären auf, arbeiten zu Suchtthemen und haben dabei die individuelle Situation der Kinder im Blick. Prävention ist ein sehr wichtiger Faktor im Umgang mit Suchterkrankungen. Nach Erhebungen von NACOA Deutschland haben 30 Prozent der Kinder aus suchtbelasteten Familien im Erwachsenenalter selbst Suchtprobleme mit Alkohol, Drogen oder Medikamenten oder entwickeln eine psychische Störung. „Wildfang“ versucht, durch psychoedukative, erlebnisorientierte und Resilienz fördernde Angebote dieses Risiko zu minimieren.
Wie wollen Sie die Zielgruppe erreichen?
Tanja Meier: Obwohl wir das Projekt ziemlich offensiv bewerben, an vielen Schulen, Beratungsstellen, Jugendeinrichtungen und so weiter Flyer ausliegen und wir regelmäßige Mailings machen, ist es nicht einfach, Teilnehmer:innen für unsere Gruppe zu gewinnen.
Astrid Heyl: Es gibt im Prinzip drei Hürden: Da ist zum einen die sogenannte Compliance, also die Erkenntnis oder Einsicht des Elternteils, eine Suchtproblematik zu haben. Außerdem sind psychische Erkrankungen und insbesondere Suchterkrankungen immer noch mit Schuld- und Schamgefühlen verbunden und Eltern haben große Sorgen, stigmatisiert und von anderen erkannt zu werden. Nachbarn könnten sie ja sehen, oder Arbeitskolleg:innen. Die dritte Hürde ist die Scham vor dem eigenen Kind selbst. Viele Betroffene versuchen, ihren Selbstwert zu schützen, indem sie daran festhalten, dass ihr Kind nichts von der Sucht mitbekomme. Es fallen Sätze wie: „Ich trinke nur, wenn die Kinder im Bett sind“ oder „die sind zu jung und merken das nicht“.
Robert Scheuring: In unseren Vorgesprächen und auch bei der Schnupperstunde bedeutet das viel Überzeugungsarbeit und Verständnis. Bei gemeinsamem Sorgerecht müssen beide Eltern der Teilnahme ihres Kindes an „Wildfang“ zustimmen, woran eine Teilnahme häufig scheitert.
„Wildfang“ 2024
Die diesjährige Wildfang-Gruppe startet im März 2024. Die Anmeldung ist über die Caritas Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern möglich. Im Rahmen einer Präventionswoche für Kinder aus suchtbelasteten Familien, die jährlich im Februar stattfindet, hat der Arbeitskreis „Schulterschluss“ zusammen mit Chapeau Claque außerdem ein Theaterstück entwickelt. Dieses wurde am 19. Februar uraufgeführt und kann von Schulen und anderen Einrichtungen gebucht werden, um einen möglichst breiten, pädagogisch fundierten Zugang mit der Tabuthematik der Suchterkrankung zu schaffen.