Alljährlich lädt das Steigerwald-Zentrum in Handthal zum Waldtag, um dem Publikum „die Pforte zum Wald aufschließen“, wie Louis Kalikstein, Forstlicher Leiter des Zentrums, sagt. Unter dem Motto „Der Wald und wir“ soll den Besucher:innen am 5. Mai durch Informationsveranstaltungen, Mitmach-Aktionen wie Baumklettern oder das immer beliebtere Waldbaden, der Wald, sein Zustand und seine gesellschaftliche Bedeutung nähergebracht werden. Wir haben mit Louis Kalikstein über den Tag gesprochen.
Herr Kalikstein, wäre in einer idealen Welt nicht jeden Tag Waldtag?
Louis Kalikstein: Es ist im Grunde genommen jeden Tag Waldtag. Es gibt in Deutschland das sogenannte freie Betretungsrecht, das heißt, jeder darf jederzeit in den Wald hineingehen. Auch haben wir eigentlich sehr viele Waldtage im Steigerwald-Zentrum, weil wir regelmäßig Schulklassen oder andere Gruppen durch den Wald führen und an den Wochenenden viele Veranstaltungen auch im Wald anbieten. Das könnte man als kleine Waldtage bezeichnen, bloß unser großer Waldtag findet tatsächlich nur einmal im Jahr statt.
Was hat es mit dem diesjährigen Motto „Der Wald und wir“ auf sich?
Louis Kalikstein: Wir überlegen uns jedes Jahr ein anderes Motto, weil wir den Wald, der wahnsinnig facettenreich ist, immer von einem anderen Blickwinkel aus betrachten wollen. Dieses Jahr wurde es „Der Wald und wir“, weil wir damit die Beziehung von Mensch und Wald genauer beleuchten wollen. Man spricht ja immer davon, dass die Deutschen so eine Waldnation seien mit einem besonderen Verhältnis zum Wald.
Es gibt Länder, wie zum Beispiel Island, die überhaupt keinen Wald haben. Deutschland hat hingegen relativ viel davon. Wie kann sich so eine Landschaft in einer Mentalität niederschlagen?
Louis Kalikstein: Sehr stark. Geht man in der Geschichte zurück, sieht man, dass die Menschen in Mitteleuropa immer schon von und mit dem Wald lebten, in einer sehr engen und abhängigen Beziehung. Das Vieh wurde zum Weiden in den Wald getrieben, man hat Eichenrinde zum Gerben verwendet, es wurden Pflanzen, Beeren, Pilze und Kräuter gesammelt und man hat natürlich Holz in rauhen Mengen benötigt. Der Ötzi ist ein gutes Beispiel dafür, wie gut sich die Menschen mit dem Naturstoff Holz auskannten. Er hatte in seinem Werkzeug und seiner Ausrüstung 17 verschiedene Holzarten bei sich, wie Untersuchungen ergaben. Der Griff seines Messers war aus Eschenholz, sein Tragegestell aus Haselnuss, sein Bogen aus Eibe und die Pfeile aus Schneeball, einem Strauchgewächs. Bereits vor gut 5000 Jahren, etwa die Zeit als Ötzi lebte, kannten die Menschen den Wald also sehr gut und wussten ziemlich genau, welches Holz sie wofür verwenden konnten. Diese Verbindung zum Wald hat sich natürlich auch in der Kultur niedergeschlagen, zum Beispiel sind viele Redewendungen heute Zeugnis davon, wie „den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen“, „sich wie die Axt im Wald benehmen“ oder „ich glaub, ich steh‘ im Wald“.
Lässt sich sagen, wie es im Steigerwald vor 5000 Jahren zuging?
Louis Kalikstein: Was man sicher weiß ist, dass es deutlich mehr Wald gab und dass der Wald hauptsächlich ein Buchenwald war – genau wie heute. Die Menschen waren zunächst noch nicht sesshaft, sie zogen als Jäger mit Hütten und Zelten umher. Bevorzugt haben sie ihre Quartiere an Wasserläufen errichtet, was Fundstellen entlang der Ebrach belegen. Dort hat man man zum Beispiel Steinklingen und Bohrer gefunden. Mit dem Übergang zum, Neolithikum, also zur Jungsteinzeit vor etwa 5000 Jahren, wurden die Menschen dann mehr und mehr zu sesshaften oder zu teilweise sesshaften Ackerbauern und Viehzüchtern. Auch dies ist durch Keramikfunde im Steigerwald belegt.
Wie steht es um den gesellschaftlichen Bezug zum Wald heute? Ist man sich seiner Wichtigkeit als Rohstoff- oder Nahrungslieferant bewusst oder nimmt man ihn zur Kenntnis und nichts weiter?
Louis Kalikstein: Ich glaube, beides. Früher war der Wald natürlich viel stärker im Fokus, was seine Nutzung anging. In den Jahrtausenden bevor es Plastik gab war Holz der Rohstoff schlechthin: zum Heizen, Bauen, für Werkzeuge, Karren, Waffen oder Schiffe. Das hat sich erst in der Zeit geändert, als Metalle und dann später Plastik aufkamen und das Holz immer weiter ablösten. Entsprechend hat sich auch das Bild, das eine Gesellschaft vom Wald hat, gewandelt. Heute spielt er, neben durchaus auch weiterhin bestehenden wirtschaftlichen Aspekten, zum Beispiel eine wichtige touristische Rolle. Die Leute gegen in ihm spazieren, wandern, Fahrradfahren oder Geocachen. Das ist eine Art Schnitzeljagd anhand von GPS-Daten.
Im Steigerwald und am Waldtag kann man zudem Waldbaden, also im Wald Entspannungsübungen machen, bei denen man versucht, die Natur bewusst und mit allen Sinnen zu erleben. Welche Rückmeldungen bekommen Sie dabei?
Louis Kalikstein: Das Waldbaden stammt traditionell aus Japan und schwappt immer mehr nach Europa über. Die Leute fühlen sich dabei entspannt, was auch wissenschaftlich belegbar ist. Der Puls verlangsamt sich, wenn wir uns im Wald aufhalten. Es ist die kühlere Luft, das Vogelzwitschern, das Knarren der Bäume und das Rauschen der Blätter. Er wirkt auf uns, ohne dass wir es merken, beruhigend.
Wie erklären Sie sich das?
Louis Kalikstein: Der Kontakt mit der Natur scheint etwas anzusprechen, das von jeher in uns steckt. Der Mensch ist ja eigentlich erst seit Kurzem von der Natur entfremdet, wie man sagt. So ein Büroarbeitsplatz ist eine relativ neue Erfindung, vorher haben wir jahrtausendelang in engem Einklang mit der Natur gelebt. Aufgrund der geschichtlichen Verbindung mit dem Wald befriedigt uns die Arbeit oder der Aufenthalt in ihm irgendwie immer noch. Genau wie Gemüse im eigenen Garten anzubauen. Auch scheint es eine generelle gesellschaftliche Sehnsucht nach Natur und Wald zu geben. Man schaue sich nur einmal erfolgreiche Youtube-Formate wie
„7 vs. Wild“ an oder den Erfolg von „Landlust“ und anderen Zeitschriften.
Es steht zu lesen, dass es in südlichen Urlaubsländern immer heißer und ein Urlaub dort entsprechend immer weniger attraktiv wird. Darum bereisen die Leute eher nördlichere Regionen wie die hiesige. Ist Ihnen ein solcher Zuwachs an Tourismus recht?
Louis Kalikstein: Absolut. Was mich jedoch beunruhigt ist, dass es dem Wald wegen des Klimawandels und steigenden Durchschnittstemperaturen nicht so gut geht. Der Wald tickt sozusagen in langen Zeiträumen. Jetzt haben wir aber einen Klimawandel, der sehr rasch voranschreitet und die Bäume tun sich schwer, mit dieser Geschwindigkeit mitzukommen. Sie leiden darunter, deutschlandweit. Gerade bei der Buche merken wir das hier im Steigerwald deutlich. Zusätzlich beunruhigend finde ich, dass diese Entwicklung kaum gesellschaftlich wahrgenommen wird. Ich freue mich also über alle, die in den Wald gehen und ihn und seine Probleme wahrnehmen.
In welchem Zustand ist der Steigerwald?
Louis Kalikstein: Der Steigerwald ist auf großer Fläche in einem noch guten und noch vitalen Zustand. Aber Schwierigkeiten durch Trockenheit und Baumsterben hat auch er.
Kann es den Bäumen letztlich gelingen, sich an den Klimawandel anzupassen, sofern dieser nicht noch schlimmer wird?
Louis Kalikstein: Mit Sicherheit. Die Natur hat kein Ziel und wird sich irgendwie anpassen. Die Frage ist nur, welches Ziel eine Gesellschaft hat? Wenn wir den Wald erhalten und ihn durch diese schwierige Zeit bringen wollen, müssen wir ihm auf jeden Fall helfen.
Wo geraten Sie damit an Ihre Grenzen? Da wo die Politik nicht mitzieht?
Louis Kalikstein: Nein, eher durch die Geschwindigkeit der klimatischen Veränderungen und die unvorhersehbaren Folgen etwa, dass wir uns auf für den Wald schädliche Insekten einstellen werden müssen, die wir heute noch gar nicht kennen. Abgesehen von den Schutzgebieten wird der Steigerwald überall bewirtschaftet. Diese Schutzgebiete sind auch für die Forschung wichtige Referenzen. Der größte Waldbesitzer im Steigerwald ist der Freistaat, der den Wald auf etwa 17.000 Hektar bewirtschaftet. Hinzu kommen kommunale und Privatwälder. Und gerade der Staats- und Kommunalwald wird vorbildlich bewirtschaftet und für den Klimawandel fit gemacht.
Ist Waldwirtschaft alternativlos nötig oder könnte man Substitutions-Stoffe für zum Beispiel Holz finden?
Louis Kalikstein: Im Gegenteil. Ich denke, Holz ist ein hervorragendes Substitutions-Produkt für Materialien, die viel CO2- und energieaufwändiger in der Herstellung sind. Holz hat zudem die tolle Eigenschaft, CO2 zu speichern.
Wie hat sich der Zustand des Steigerwaldes seit dem letzten Waldtag verändert? Oder ist der Zeitraum zu kurz für eine solche Angabe?
Louis Kalikstein: Der Zeitraum ist tatsächlich ein bisschen kurz. Aber besser ist der Zustand definitiv nicht geworden.
In der Ankündigung des Waldtages schreiben Sie, der Steigerwald sei vor 300 Jahren stark übernutzt gewesen, mit Holzknappheit und Bodenschäden. Sind diese Schäden heute noch bemerkbar?
Louis Kalikstein: Wahrscheinlich. Es ist jedoch so, dass uns dabei Vergleichsmöglichkeiten fehlen. Wir wissen nicht, wie der Wald heute aussehen würde, wenn er damals nicht für so lange Zeit so intensiv bewirtschaftet worden wäre. Die Böden, denke ich, wären heute zum Beispiel aber sicherlich nährstoffreicher.
In welchem Zustand befindet sich die Tierwelt?
Louis Kalikstein: Es gab schon einmal mehr Tierarten im Steigerwald. Gerade große Beutegreifer, wie Wolf, Bär und Luchs, sind ausgerottet. Was aber die jüngere Entwicklung angeht, bemerken wir durch die Zunahme von Totholz im Wald eine Zunahme der Lebewesen, die auf solches Holz angewiesen sind. Das gilt insbesondere für die Insektenwelt.
Böte der Steigerwald zum Beispiel einem Wolfsrudel genug Platz?
Louis Kalikstein: Ich denke, ja. Wir haben im Steigerwald sehr große und weitläufige Waldgebiete. Was also die Flächengröße angeht, wäre nach den wissenschaftlichen Aussagen zur Größe von Wolfsterritorien der Platz gegeben. Aber das Thema Wolf wird gesellschaftlich kontrovers diskutiert.
Zurück zum Motto des Waldtages. Welche kulturelle Ausstrahlung hat der Wald? Denn was wären zum Beispiel die Märchen der Grimms ohne ihn?
Louis Kalikstein: Er hat auf jeden Fall etwas mystisches. Schon wenn man in den Wald reingeht, merkt man, dass es ein bisschen dunkler und die Luft kühler und feuchter ist. Auch kann man nicht weit sehen und weiß nicht, was sich hinter dem nächsten Baum oder Busch verbirgt. Ich denke, diese Dinge können die Fantasie, zum Beispiel für Märchen, durchaus anregen.
Da möchte man sagen: Je naturbelassener der Wald, umso größer seine mystische Ausstrahlung. Gibt es im Steigerwald Bereiche, die Sie ganz sich selbst überlassen?
Louis Kalikstein: Ja, solche Schutzgebiete gibt es, aber sie sind allerdings relativ jung. Es gibt eigentlich sogar deutschlandweit kaum mehr Urwälder. Fast jeder Quadratmeter Wald wurde in den letzten 1000 Jahren auf irgendeine Art und Weise vom Menschen genutzt und geprägt. Das größte Schutzgebiet im Steigerwald ist der Naturwald „Knetzberge-Böhlgrund“ mit etwa 850 Hektar Fläche, das sind grob gesagt 1000 Fußballfelder. Das ist eine beachtliche Größe und dort soll sich die Natur ohne menschlichen Einfluss entwickeln. Aber im Allgemeinen wollen wir Einfluss nehmen auf den Wald, um ihm an den dem Klimawandel anzupassen.
Hat der Wald dennoch so etwas wie eine besondere Unschuld? Ist dort die Welt noch in Ordnung?
Louis Kalikstein: Das kann ich mir vorstellen. Obwohl der Wald in Deutschland kaum mehr unberührt und insofern fast vollständig ein Zivilisationsprodukt ist, hat er eine sehr natürliche Ausstrahlung. Kaum andere Bereiche aus dem sonst so anthropogen geprägten Umfeld haben eine solche Ausstrahlung. Das beginnt schon bei den rechtwinkligen oder geradlinigen Strukturen, die wir aus dem Alltag gewohnt sind, die aber im Wald nicht vorkommen.